(Ron Winklers) Lyrik als Heilmittel gegen den Rechtsruck?!

9. September 2016 - 2016 / Allgemein / texttext

Die Woche nach der Wahl in Mecklenburg-Vorpommern: Es läuft gut für die AfD, das kann man nicht leugnen und man fragt sich, wie es passieren konnte, dass eine Partei mit solch eigensinnigen Ansichten und einer solch weltfremden Interpretation der Realität, ja, geradezu einer Pippi-Langstrumpfesken Zurechtbiegung ebendieser Realität, zweitstärkste Partei werden konnte. Ich frage mich das und komme in dem rhizomatischen Durcheinander, nach dem meine Gedanken geordnet sind, zu dem Lyriker Ron Winkler: Denn auch für den lief es gut. Ende des letzten Jahres gewann er den 6. Münchner Lyrikpreis, Anfang dieses Jahres dann direkt den Basler Lyrikpreis; letzteren für seinen 2013 erschienenen Lyrikband Prachtvolle Mitternacht. Ich verstehe, warum ich auf Winkler komme: Den Zusammenhang finde ich in der Begründung der Basler Jury wieder,  in der es heißt, auch  Winkler entwickele in  seinen Gedichten seine ganz eigene Wahrnehmung von Welt. Der große Unterschied zwischen der AfD und Ron Winkler – und damit möchte ich diesen forcierten Vergleich beenden – liegt darin, dass die erstgenannte eine selbst-konstruierte Wahrnehmung von Welt für ihre politischen Ziele ausnutzt und der andere die Wahrnehmung von Welt mit seinem Werk dekonstruiert.

Die erfundene Wahrnehmung

Mir fällt außerdem Herta Müller ein, die sich mit dem Begriff der ‚erfundenen Wahrnehmung‘ auf Jorge Semprun beziehend ebenfalls irgendwie in die Thematik des Umgangs mit Realität (in ihrem Fall sogar einer höchst politischen) eingebracht hat. Das Thema ist nicht neu: Über die Frage wie sich Realität und Fiktion zueinander zu verhalten haben, wurde bereits einiges geschrieben und gesagt und ich möchte mir in diesem Beitrag nicht anmaßen, in diesen wissenschaftlichen Diskurs einzusteigen. Was das Werk Herta Müllers jedoch gezeigt hat, ist: Manchmal braucht es Literatur, um Politik zu verarbeiten; sie brauchte die erfundene Wahrnehmung, um die Verfolgung und Unterdrückung unter dem Regime Ceaușescus in Rumänien auch im Nachhinein aushalten zu können. Vielleicht brauchen wir alle etwas mehr von dieser Technik, um gegen real(politische) Phänomene wie die AfD vorgehen zu können. Und da kommt exemplarisch Ron Winkler ins Spiel.

Winklers (De-)Konstruktion von (Sprach-)Welten

Die Basler Jury hat nicht ohne Grund konstatiert, dass seine Gedichte in erquickender Art und Weise an unserer Wahrnehmung von Welt und Sprache rüttelten, und gleichzeitig auf die schon viel rezensierte sprachspielerische Experimentierlust hingewiesen. In dem bereits genannten Band Prachtvolle Mitternacht wird beides evident: Er beginnt mit einer Generalnegierung der Poetologien und Herangehensweisen anderer Lyriker und Schrifsteller; das erste Gedicht Prospekt ist gespickt von intertextuellen Verweisen, von welchen sich das artikulierende Ich abwendet, nur um in den folgenden Gedichten seine eigene Vorstellung von Wirklichkeit in vielen Vor- und kleinen Rückwärtsschritten aufzubauen. Dies erkennt man bereits an den Titeln, die häufig das sich artikulierende Ich einführen und es für den Rezipienten in einer Um- oder Außenwelt verorten (vgl.: aus dem Berichtsheft des Winterwärters, letzte Meldung von der Kursk 141 oder schöner Mann auf freiem Feld). Man muss nicht lange in den Gedichten stöbern, bevor das Thema der Wirklichkeitswahrnehmung ins Auge springt. Das Gedicht der Herr über die zwölfte Jurte beginnt mit dem Vers „vor mir die Steppe: ein Ist, soweit das Auge reicht.“, das darauf folgende Gedicht Auftritt der Nutzfarnvertilgerin knüpft inhaltlich daran an und variiert die Aussage mit dem ersten Vers „die Wiese duftet nach meinem Geruchssinn. das erklärt/auch die Blumen (…)“. Der Ist-Zustand der Steppe hängt von der Reichweite des Sehvermögens ab, während der Geruch der Wiese gleichsam erst vom Geruchssinn selbst konstituiert wird und somit ebenfalls subjektabhängig ist. Dazu passt auch der noch in den gleichen Vers gestellte, aber zum nächsten Satz gehörende Anschluss „das erklärt“, in dem sich ein kognitiv geschlossener Zusammenhang mit der auf dem Akt der Wahrnehmung beruhenden Erkenntnis verbindet. Diese einleitenden Axiome erinnern an die Aussagen des radikalen Konstruktivismus und setzen die Gedichte Winklers in einen Kontext, in dem sowohl seine sprachliche Gestaltung aus der Produktionsperspektive als auch die subjektive Rezeption durch den/die Leser_in individualisiert und dadurch neutralisiert wird.

Dass Wahrnehmung von Welt immer subjektiv geschieht, ist hier die Grundaussage, die ich inhaltlich kurz angerissen habe (vertiefend dazu kann man sich Winklers Gedicht Quisquilien eines Eremiten im Wald genauer ansehen). Das attestierte Sprachspiel sehe ich dabei als notwendige Folge an, denn wie wir uns von einer objektiv erfahrbaren Realität verabschieden müssen, sollten wir dies konsequenterweise auch von der Ansicht machen, Sprache besäße die Möglichkeit, welche Wahrnehmung auch immer adäquat wiederzugeben. Winkler spielt deswegen mit der Sprache, nutzt Stilmittel, um Doppeldeutigkeiten zu erzeugen und die Offenheit der Interpretation auszureizen. Gerade durch Enjambements und den exzessiven Gebrauch von Sprungtropen lässt sich der unreflektierte Sprachgebrauch unterbrechen und durch eine Multiplikation der Interpretationsmöglichkeiten hinterfragen. Die Lyrik Winklers regt somit im Kleinen wie im Großen zum Nachdenken über Weltbilder, aber auch der Wiedergabe ebendieser an.

Lyrik als Wundermittel gegen den Rechtspopulismus

Ich möchte zu Herta Müller zurückkehren, die mit ihren Collagen eine ähnliche Taktik verfolgt und Wörter aus ihrem Zusammenhang gerissen in ihren Gedichten neu zusammengefügt hat. Was zwischen den einzelnen Wörtern entsteht, was sie in ihrem neuen Kontext verbindet, macht ihre Poesie so flexibel und vielschichtig. So schafft Müller es Dinge auszudrücken, die sonst für sie nicht ausdrückbar und für den/die Leser_in nicht erfahrbar gewesen wären. Winkler, Müller und die AfD sind nur einige Beispiele für dieses Vorgehen, denn auch das anfangs beschriebene Zurechtbiegen der Wirklichkeit durch die AfD könnte man (angenommen es handle sich um ein literarischen Programm und nicht ein politisches) in diese Reihe an Poetologien anschließen. Im Aufdecken ihrer Methodik, im selbstreflektierten Umgang mit der eigenen Sprache und den Auswirkungen während der Rezeption sind Herta Müller und Ron Winkler der AfD aber um einiges voraus und befähigen im Endeffekt durch ihre Lyrik den/die Rezipient_in mit den vielen Konzeptionalisierungen von Realität umzugehen und diese einordnen zu können. Gerade wenn dann eine Gruppe wie die AfD die Möglichkeit, subjektive Wahrnehmung als eine objektive zu verkaufen, wahrnimmt, schützt uns Literatur und vielleicht Lyrik im Besonderen, unreflektiert Gedankengut zu übernehmen. Dass die Auseinandersetzung mit dieser Thematik dann noch so viel Spaß machen kann wie bei Winkler, lässt seine Gedichte fast zum Wundermittel gegen die Erstarkung der rechtspopulistischen Bewegung werden.

Jürgen Gabel

› tags: AfD / Gedichte / Herta Müller / Lesen / Lyrik / Realität / Rechtspopulismus / Ron Winkler / Wahrnehmung / Wirklichkeit /

Comments

  1. […] einen letzten Aspekt soll noch eingegangen werden, der in dem schon erschienen Beitrag Lyrik als Heilmittel gegen den Rechtsruck?! angesprochen wurde: Poesie kann es schaffen, eine Gesellschaft zu formen, ihr einen neuen Drall zu […]

  2. […] für umliegende Bereiche, aber auch die gesamtgesellschaftliche Wirklichkeit hat. Ob nur ich Lyrik als Mittel gegen den allseits wahrnehmbaren Rechtsruck verstehe und es interessant finde, nach neuen Formen des Politischen in der Literatur (meiner […]

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.