Mindstate Subito – Goetz in Klagenfurt

5. Juli 2021 - 2021 / soziotext / texttext

Nach einem Vorgriff auf die Nachwehen des 1990er-Popliteratentums im Jahr 2021 ein Blick auf seine Anbahnung: Rainald Goetz’ Lesung von Subito beim Bachmann-Preis 1983.

Da sitzt also ein bisher kaum Bekannter hinter dem Klagenfurter Kurbeltischchen und wackelt sehr echauffiert auf und ab, während er sein Manuskript im Ton größter, dringlichster, avantgardistischster Provokation vorträgt. Irgendwann schneidet er sich mit einer Rasierklinge in die Stirn und liest, blutend, weiter. So betont sich diese performative Inszenierung als Umkehrung des üblichen schwersinnig-eintönigen Drüberweglesens in Moll-Tonlage und mit eingeschlafenem Gesicht darstellt, wie man es aus Lesungen der ‚ernsten‘ Literatur kennt, so wenig ist das Publikum davon affiziert. Es harrt, offensichtlich weit weniger atemlos als Rainald Goetz selbst, lauscht vorbildlich der Beschimpfung, lässt sich aber, bis auf einen vom Anblick des blutverschmierten Autors ohnmächtigen Zuschauer, nicht agitieren, sich seiner Macht gegen den Autor und die für sie urteilenden Großkritiker bewusst zu werden. Von Skandal bei all dem Skandal, der schließlich daraus wird, ist offensichtlich wenig zu spüren. Die Aufnahmen vom Bachmann-Preis 1983 zeigen vielmehr, wie resistent ein halbwegs stabiles selbstorganisierendes System sich Inszenierungen von Kritik einverleiben kann oder, umgekehrt gedacht: wie Kritik belanglos wird, wenn sie nach den kritisierten Maßstäben verfährt, sich ihren Kontexten einordnet.

Juryleiter Marcel Reich-Ranicki führt die unmittelbare Absorption ins kritisierte System vor: Kritik an den Klagenfurter Kontexten, Beschimpfung der Jury, Hetze gegen die Mechanismen des Kulturbetriebs im Allgemeinen – alles legitim, weil Teil einer literarischen Traditionsreihe, die den Text für das anschließende Scherbengericht qualifiziert. Bezugnahme auf die im Text angesprochenen Probleme der Klagenfurtnerei ist dann nicht mehr nötig; es geht ja nunmehr schließlich und ausschließlich um Literatur und da sind ganz andere Kriterien gefragt – nicht zuletzt, ob der Text langweilt oder nicht. Er tut es nicht, befindet Reich-Ranicki. Dabei ist es gerade diese Sichtweise, die Goetz in Antizipation des Kritiker-Innenlebens als Automatismus herausarbeitet:

Schon schläft der erste Kritiker ein […], oder schon zwei schnarchen mit ihrem Gehirn […] während die, vor denen du deine Panik hast, sich immer wieder fragen, ob sie vor lauter Langeweile vielleicht bloß noch einen Tannenreisig im Kopf drin haben […] so ein staunendes Daß ich jetzt diesjahr hier schon wieder sitze und schon wieder so ein Blödel liest, die müssen sich das ja vier Tage soundsoviele Stunden an den Kopf hauen lassen, die ganze Literatenphantasie, so eine Riesenscheiße […].

Es folgen noch zahlreiche weitere „Scheiße“ und schließlich die Sentenz: „du sagst es 119 mal […], nämlich das Wort Scheiße, und schon ist alles sagenswerte über Klagenfurt gesagt.“ So wird die legitime Kritik von der sicher auch legitimen, aber doch vor allem simplen und inhaltsleeren, eben doch in einer Traditionslinie stehenden Publikumsbeschimpfung überformt. Absorption der Subversion bedarf dann keiner sonderlichen argumentativen Gewitztheit mehr.

Natürlich sprechen die Bilder für sich: Der märtyrermäßig vor sich hinblutende, stumme Goetz wird im Kreuzfeuer der Blickachsen und Wortmeldungen des neunköpfigen kritischen Herrenclubs mit Damenbegleitung (Klara Obermüller) abgeurteilt. Nur fallen die Urteile überwiegend (Ausnahme-Ehrenpreis: Gert Ueding) wohlwollend aus, der provokativen Geste wird damit auch die letzte kritische Substanz genommen. Sie wird Stilmittel und Argument zur Wertung – womit Goetz kein Problem zu haben scheint. Zwar geht er ohne Preis aus, den Friederike Roth erhält, bekommt dafür aber reichlich kostenlose PR für seinen bald darauf erscheinenden Roman Irre (1983) – kaum eine Rezension der Veranstaltung verzichtet darauf, zumindest einen kurzen Kommentar zum literarisch gerahmten Stirnschnitt abzugeben. Während zahlreiche seiner damaligen Konkurent*innen heute kaum mehr als namentliche Bekanntheit unter Bachmann-Preis-Gourmets beanspruchen können, ist Goetz’ mediale Inszenierung des Regelbruchs zur Selbstvermarktung geglückt. Das selbststigmatisierende Spektakel gehört zum Kanon der Skandale im deutschsprachigen Literaturbetrieb, dem Goetz selbst als Enfant terrible unabdinglich ist.

Was bleibt nun aber vom Text selbst? Ein genauerer Blick auf die Textgrundlage zur Kunstaktion lohnt, denn heute gelesen scheint der kurze Ausschnitt aus Irre nicht nur stilistisch und inhaltlich die Pop-Literatur der 1990er vorzubereiten und damit Jörg Fausers Einschätzung von Goetz und Diederichsen als neue Schreibweisen anbahnende Pop-Theoretiker zu stützen.[1] Bekannt scheinen: die Haltungs- und Ratlosigkeit sowie Sinnverweigerung des Erzählers, die scheinhafte Sublimierung aller daraus resultierenden Zweifel und Leiden mit Ästhetizismus und der Koketterie mit Hass, Zynismus und allumfassender Affirmation, schließlich die Theoretisierung des Ganzen inklusive Unangreifbarmachung durch Ironisierung und Diskurspogo.

Raspe, Goetz’ Erzähler, ist gepackt von „grundloser Heiterkeit“, ersehnt „kosmische Vereinigung“ und „schweres schönes Glück“. Nur: „Einen Halt hatte Raspe verloren.“ Das kann schwerlich verwundern, lautet doch sein Credo von Beginn an implizit und schließlich nach einem langwierigen, stinksauren Selbstfindungsprozess explizit: „AllesAllesAlles geht uns an.“ Konkret bedeutet das – und spätestens hier gewinnt er die Herzen aller postmodernen Bordercrosser und Gapcloser:

[J]awoll Heil Hitler da reihen wir uns ein, Kulturverteidigung voll geil voll wichtig. Da brennen doch praktisch brennende Fragen, sagte er, die brennen bloß so bei diesem Thema. Gibt es eine literarische Literatur? Brauchen wir die Literatur? Hat es eine Zukunft, das Literarische? Alles voll wichtig, ist der Fußball rund? Hat jedes Spiel 90 Minuten? […] Und ist das Atom beklagenswert?

Die überschwängliche Identifikation einer sich intensivierenden Reizüberflutung im Kontext zunehmender medialer, visueller, kommunikativer und was nicht alles Informationsdistribution wird hier nonchalant als die einzig mögliche Grundlage zeitgeistangemessenen Schreibens postuliert. Das Schlimmste, das Feindbild: der „BIG SINN“, vertreten von den „präsenilen ChefPeinsäcken Böll und Grass“ und gleichwohl, kurzer Prozess, von Helmut Kohl, eben den „professionellen PolitFlaschen und StaatsIdioten“. Erschossen gehörten sensible Phantasten ebenso wie selbstironische oder, „das allerbläädste“, gesellschaftlich engagiert Schreibende. Es gilt nicht mehr das Schreiben mit irgendeinem „SauSinn“ als Grundlage und Ziel, sondern vielmehr „die Wahrheit schreiben von allem, die keinen Big Sinn nicht hat, aber notwendig ist, notwendig ist das einfache wahre Abschreiben der Welt.“

Da den Halt zu verlieren, scheint nicht unplausibel und resultiert dann in interessanten Wahrheiten über die Welt, die wir auch aus der oberflächlich der oberflächlichen Nachwendewelt und dem darin grassierenden Sinnverlust begegnenden 90er-Popliteratur kennen. Statt big Sinnsuche also das Leiden des betont und absolviert weil legitimiert subjektiven, neurotischen Subjekts an: „schluffihippiemäßig“ gekleideten „Krüppeln“, noch mehr, wenn diese zugleich eigentlich schöne Frauen sein könnten, an irgendwie naturgemäß dummen Proletariern und überhaupt an „fette[m] Fleisch“, „dick und schwabbelig“, und am allerschlimmsten, sklavenmentalen „Nullen“, denen der Glaube an einen Sinn ebenso vorzuwerfen ist, wie dass sie „keine Kühnheit, kein Vollgas, keinen Fehler, keinen Wagemut“ kennen. Wem das noch nicht genug Irrationalismus und Vitalismus ist, der und die kann sich nicht nur in den Elogen auf das Gegenteil der Nullen, den „Titan“ genannten Übermenschen ergoetzen, sondern auch an der Koketterie mit Vernichtungsfantasien – „eine saubere Apokalypse“ wird gewünscht, und das geht dann immer weiter bis eben „Heil Hitler“ und „Blut muß fließen, sonst hat es keinen Sinn“.

Diese plumpe Provohaltung nimmt nicht nur deren spätere Ausprägung im 90er-Pop vorweg, sie greift auch auf den 60er-Pop zurück, indem sie den dort mitunter auszumachenden, mitunter gerechten Zorn auf die Verantwortlichen des Nachkriegsmuffs wie auf das Versagen der Studentenbewegung, etwas Frischluft hineinzubringen, vulgarisiert. Was bleibt ist ironisch und poptheoretisch gefirnisster Hass, das provokative Spiel mit NS-Vokabular und -Ambitionen, das nicht nur verstört, weil es so erschreckend durchschaubar ist und dennoch für Aufmerksamkeit sorgt, sondern auch, weil es schließlich nichts hilft gegen diejenigen, die mit entsprechenden Vokabular und Ambitionen nicht kokett spielen, sondern es ernst meinen.

Das ist leider nur der Nebenwiderspruch dieser durchaus nicht folgenlosen poetischen Forderung. Denn vor allem wirft sich dieses Einfachnur-Abschreiben dessen, was ist – oder vielmehr dessen, was man selbst als Schreibende*r eben so mitbekommt, in seiner eigenen, beschränkten Realität –, selbst gesetzt der Fähigkeit, die auch nur oberflächliche Komplexität erfassen zu können, dem mitunter doch eher schlecht konstituierten Ist-Zustand in die Arme. Reflexion über Sinn und Unsinn dieses Abschreibens seiner eigenen Lebensumwelt verbietet sich, da das bloße Abschreiben ja schon seinen Eigenwert zuge- und bewiesen bekommen hat und als zutiefst durchdachte künstlerische Haltung zur Wirklichkeit gelten kann.

Letzte Absicherung gegen alle Kritik bietet der ironische Layer, die poppige Krone literarischer Schöpfung, die letztlich nicht nur das Lachen über das Abgeschriebene ermöglicht, sondern eben auch von jeder eventuellen Notwendigkeit, am Abschreibevorbild etwas problematisch zu finden, entbindet. Die eigene, beschränkte Perspektive, das vermeintlich bloße, vermeintlich wahre, echte Schreiben wird überaus bequem, weil verantwortungs-, aber leider eben auch perspektivlos zur Verdopplung doppelt beschränkter Realität. Ironie, umgekehrt zum Entlastungsmoment von der Verantwortung für das Geschriebene, schlägt eben nicht nur die abgeschilderte Wirklichkeit, sondern auch jede Möglichkeit, sie anders zu gestalten, mit Lächerlichkeit. Das ästhetische Ideal, der Mindstate Subito: die unwirkliche Realität noch einmal, doch dergestalt ästhetisiert, dass in ihr alle Widerstandspotentiale ausgeschaltet sind.

So wird schließlich auch das eventuelle archivalische Interesse an der Fleißaufgabe bloßer Wirklichkeitswiedergabe in Mitleidenschaft gezogen. Wessen Texte konsequent-inkonsequent subito geschrieben sind, kann nur in zweiter Instanz herangezogen werden, wenn es einmal daran gehen sollte, zu erklären, warum mensch auch in Jahrhundert 21 hinter seinen emanzipatorischen Möglichkeiten zurückbleibt. Goetz selbst hat glücklicherweise seiner Forderung nicht so konsequent entsprochen und zumindest ein wenig perspektivischen SauSinn als Lösung fürs Dilemma entdeckt.

[1] Im lauen Bad der Sätze, 1983. Dass Fauser derlei Erscheinungen der „Verführer und Verächter mit den grünen Tollen und den Rasiermessern, Kulturzombies eines Kapitalismus, der verzückt seinem eigenen Nachklang hinterherlauscht“ auf die „Dauerkrise unserer politischen Kultur“ zurückführt und damit Sein, Bewusstsein und kulturproduktiven Ausstoß auf nachdenkenswerte Weise engführt, sei hier nur angemerkt. Vgl. auch https://www.kulturproleten.de/2021/03/15/singles-mit-niveau-stuckrad-barre-feat-fauser-ii/

› tags: Bachmann-Preis / Big Sinn / Fauser / Goetz / Ideologie / ideologiekritik / Irre / Kanon / Klagenfurt / Kritik / Literaturkritik / Museum der Popmoderne / Popliteratur / Popmoderne / Postideologie / Postmoderne / Subito / subversive Affirmation /

Comments

  1. […] und Klippschulgelehrter, ist ohnehin obsolet, denn, warum denn nicht? Das ist das Goetz’sche einfach wahre Abschreiben, erklärtermaßen subjektiv und antienzklopädisch, nur geläutert von Subversionssuggestion und […]

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