Die radikale Maßlosigkeit der Assoziation – Welts ‚Buddy Holly‘

31. Januar 2022 - 2022 / soziotext / texttext

Nein, ich will nicht mehr. Ich will nicht mehr und ich kann nicht mehr, auch wenn noch längst nicht über alles gerechtet wurde. Aber auch ich habe schließlich nur meine rund (((2×4)x12)x74) = 7.104 Titel Belletristik zur Verfügung, ehe das Stündchen schlägt, vermutlich erheblich verkürzt durch die reichlichen Zigaretten und Biere, die zur Rekonvaleszenz zwischen den Lektüren für diese Reihe Popmoderne und überhaupt anfallen. Deshalb verweigere ich das Studium der x-ten Abschlussarbeit über Benni, Chris, Sibylle & Co., um ihnen vielleicht doch noch eine Seite um die Durcharbeitung von 1000 abzugewinnen. Ihre Perspektivlosigkeit und ihr Zynismus, ihr Terrorismus der einfallslosen Provokation und ihre Verwahrlosungskoketterie haben mich radikalisiert – hier steht es ein für alle Mal! Und als echter Radikalnik lese ich jetzt nur noch radikales Zeug, und das konsequent: alte Jahrgänge von konkret!

Doch ich trage das Mal. Aus einer fast schon gemütlichen Textvergangenheit, in der RAF, Diederichsen und Schwarzer Krauser noch als relevante Größen eines linken Kulturbetriebs galten, aus Heft 1986/4 blickt sie mich an: die Neue Popliteratur.[1] Vorsichtig und behutsam, aber unerschrocken nähere ich mich dem Begriff, und siehe, hier scheint wirklich etwas Neues zu entdecken. Aus ein paar zwischenzeitlich mehr und vor allem weniger und noch weniger Bekannten setzt sich eine Popliteratur zwischen den Popliteraturen zusammen, eine, die intensiv musikalisch und sogar noch politisch ist – eine Popliteratur in der Zwischen- und Neufindungsphase, die noch die Möglichkeiten in sich trägt, etwas anderes zu werden, als sie dann später zu ihrem Unglück geworden ist. Der bekannteste Unbekannte dieses möglichen Anderpop ist der Rezensent der ‚neuen Popliteratur‘ selbst: Wolfgang Welt, dessen erster literarischer Text alles zeigt, was hätte werden können, aber so dann doch nur von ihm gemacht worden ist. Wir lesen: Buddy Holly auf der Wilhelmshöhe (1982).[2]

Der hier erzählt, ist Teil einer Welt. Man hockt sich mit bei Pils vom Fass zusammen und das große Palaver geht los. „Fass dich kurz, Wolfgang“, aber das macht er nicht. Es gibt zu viel zu erzählen und die Hoffnung den „ersten Pop- oder Rockroman für Suhrkamp“ zu schreiben. Keine Diskussion, dass für dessen Gelingen zunächst einmal die Kontexte gesetzt werden müssen. Elterngeneration, Schulbesuch, Abschluss, Lehre, Vereinsmitgliedschaft, Liebeleien und Heirat, Arbeitsstelle, Renteneintritt, Todeszeitpunkt und -art sind die Koordinaten einer Ereigniskette im millionenfachen, im ‚populären‘ Alltag. Zwischen ihnen rappelt das regionale und gegenstandsspezifische Füllmaterial im Textgebälk: Bochum und das Ruhrgebiet, dessen Strukturwandel in Permanenz, Kneipen-, Fußball- und Popgeschichte, Privatgeschichten und Biografien, samt rezeptions-, wirkungs- und medienhistorischem Kommentar, Distributions- und Produktionsbedingungen. Wie beiläufig kristallisieren sich aus dieser Informationsflut der Erinnerung Beobachtungen: „Das war jetzt, im Nachhinein betrachtet, auch ein Klassenkampf. Bei Nullvier spielten immer die besseren Völker, und wir war’n alles Söhne von Püttleuten.“

Privatpolitische histoire intime und Kollektivbiografie der Bochumer Wilhelmshöhe. Nun ist diese Umwelt dem filternden Subjekt jedoch nicht bloße Kulisse. Der Erzähler ist ihr Chronist und Beobachter, der sich selbst weder für unfehlbar noch für allzu wichtig hält. Neben der Entschuldigung „falls ich was falsch wiedergebe“, lässt er „jetzt mal meinen Bruder ein wenig erzählen“, manches andere „soll lieber der Jürgen“, und wenn er zwischendurch „eigentlich gerne was über den Niedergang der Vorortkneipe im Ruhrgebiet schreiben“ würde, „lassen wir’s im Moment“ besser sein: „Haltstopp: Ich muss mich gleich noch mal dran erinnern“. Die reichlichen Kommentare von „WoW“ sind selten Korrekturen, meist Ergänzungen, Kontext- und Auserzählungen zu den Berichten der anderen Figuren. Wenn er selbst mal im Mittelpunkt steht, dann nur, weil er zufällig an einer Stelle der erinnerten Welt eine wiederum zufällig prominente Rolle ausgefüllt hat. Er bleibt auch als fokussiertes Subjekt weiter Katalysator, weiter teilnehmender Beobachter, der versehentlich selbst von dem zu Beobachtenden betroffen ist, als Angehöriger des chronisch unterbezahlten kulturbetrieblichen Wanderproletariats oder etwa „weil ich so frei war, bis aufs Blut ausgebeutete MENSCHEN, die kein Arschloch mehr oder weniger haben als ihr Chef, aufzufordern, sich zu organisieren.“

Was dabei entsteht, klingt dann zum Beispiel so:

12. September: Ende der Buddy-Holly-Woche 1981. Hätte ich Geld gehabt, wäre ich in London gewesen. Hab keine Ahnung, was dieses Jahr im Clarendon Hotel in Hammersmith los war. Am siebten wäre Buddy 45 geworden. Sah er nicht schon zu seinen Lebzeiten so alt aus? Heute ist Samstag, sein Geburtstag war am Montag, kicker-Tag. Ich entnehme einer Rubrik, dass am selben Tag Erich Juskowiak 55 wird. 1958, Schweden: Er fliegt vom Platz. Da war’s aus mit seiner Karriere, obwohl jeder wusste, dass es ein Allerweltsfoul gewesen war. Da kannte hier noch keiner Buddy Holly, der damals auf dem Höhepunkt seiner Karriere war, if you knew Peggy Sue. Ich komme vom Hölzchen aufs Stöckchen, nennt man das assoziieren? Ich habe Abitur, bin nicht gebildet: kein Widerspruch.

„Automatic writing?“ – erzählen, zu Ende erzählen, was man für nötig erachtet: „Ach, ewig dieses Ablenken, iss auch egal. Ich will jetzt schreiben, was mir einfällt.“ Welt nimmt den Pop ernst. Gerade das (vermeintlich) neben der (vermeintlich) etablierten – weil als ‚Kultur‘ schlechthin etablierten – Kultur geht an, das Leben in Breite und Tiefe. Sein Verfahren ist die Verweigerung der Selektion oder eher: die Herstellung von Gleichberechtigung allen Materials ohne Konzession an die letztlich gar nicht so notwendige Endlichkeit des daraus komponierten Modells, das allenfalls Minimalanforderungen von Erzählprinzipien der Chronologie und Linearität erfüllt. In den Erinnerungsgewittern wird nichts ereignishaft oder überhaupt besonders relevant gegen anderes gesetzt.

Wo aber nichts bedeutsam ist, ist es alles. Damit wird nicht nur das literarische Archivieren des Alltäglichen vorbildlich umgesetzt, sondern wird auch die Bedeutsamkeit des scheinbar Nebensächlichen, Sujet- und Bedeutungslosen, des Nicht-Ereignisses darin erkenntlich und abgegolten. Das Alltägliche des Durchkommens, Durchhaltens und Weitermachens, das sicher sinnlose und manchmal willkürliche, aber eben keinesfalls irrelevante Vor-sich-hin-Passieren von Leben in der Geschichte, in eigener Geschichtlichkeit, wird im Assoziieren Welts nachvollziehbar und in den zahllosen komplexen Zusammenhängen als bedeutsam sui generis erkenntlich. Die allfällige Frage Wozu Literatur? entfällt, weil sie durch den Text und sein Verfahren selbst beantwortet wird. Dazu Literatur: versuchen, so zu erzählen, dass das Material und sein Geschichtenpotenzial zu ihrem Recht kommen.

Das Resultat dieser Ästhetik sind maßlose Texte, scheinbar ohne Anfang und Ende, die ein „Panorama []schaffen, dessen Details nach Belieben in den Mittelpunkt gerückt werden können“.[3] So wird es möglich, Welts, na, noch einmal: Welt immer wieder neu zu konstruieren, anders zu rekonstruieren, auszubauen ins endlos Mannigfaltige, nicht zuletzt unter Zuhilfenahme seiner eigenen journalistischen Beiträge und von da aus noch weiter – die Frage, ob Literatur noch Literatur sei, wenn man bei Lektüre ins Prüfen und Recherchieren verfällt, beliebtes Lamento fiktionalfixierter Winkelkritiker und Klippschulgelehrter, ist ohnehin obsolet, denn, warum denn nicht? Das ist das Goetz’sche einfach wahre Abschreiben, erklärtermaßen subjektiv und antienzklopädisch, nur geläutert von Subversionssuggestion und umsichtig trainierten Allüren, die dann in Kleintierzüchtereitelkeit präsentiert werden in Hoffnung auf besondere Hervorhebung im schlauen Teil der Zeitung, Spalte Gemütlich weil kultiviert, Kolumne Herrlich Meta.

„Jede Woche erlebe ich einen Roman“ – entscheidend ist eben, wer wie erlebt, wie das beobachtet wird und mit welchem Anliegen. Welts Abschreiben ist keinesfalls von interesselosem Wohlgefallen geleitet, sondern Tendenzliteratur. Statt falscher Koketterie steht über allem das richtige Anliegen: „Ich will einigen Leuten ein Denkmal setzen, die sonst noch nicht mal einen Grabstein kriegen würden. Ich stell mich hinten an.“ Dank dieses demokratischen Sozialrealismus‘[4] kann ihn AllesAllesAlles angehen, ohne das seine Texte ziellos werden – Welts Selbstbeschreibung als „eine Art Pop-Dutschke“[5] ist zutreffender, als sie wohl ironisch-autofiktional gemeint war. Er betreibt schreibend die Emanzipation des Erzählten von der Verhackstückung durch den Erzähler, beider Befreiung von in diversen Hinterköpfen des Produktionsprozesses dabei hinwesenden Antizipationen der Publikums-, Betriebs- und Markterwartungen. „Komm zum Ende, Wolfgang, brich einfach ab; ‘nuff said. Nee, sieh mal zu: Das Denkmal ist noch nicht fertig.“

Wie Popliteratur hätte sein können – man mag es kaum glauben: bewusst über Verantwortung und Möglichkeiten des archivierenden Erzählens, dieser Verantwortung gerecht werdend, ohne Narzissmus und wie selbstverständlich experimentell, mit viel Spaß nicht zuletzt an der radikalen Maßlosigkeit von Verfahren und Ziel. Es hätte ein anderer als der selbstverliebte akademische Berlin-Suhrkamp-Pop oder der noch selbstverliebtere reaktionäre Rich-Kid-KiWi-Pop werden können. Stattdessen erst mal ‚Dr. Punk‘ mit Irre (1983) und wenige Jahre später über Welts Debütroman Peggy Sue (1986) der – wie jeder – hochnotpeinliche ‚Verriss‘ Diederichsens, welcher in der ausbleibenden Rezeption Welts über Insider-Kreise hinaus keine geringe Rolle spielt. Das mea culpa des Bösewichts und Giftfinken für den Rufmord am Potentaten einer möglichen Avantgarde der späten 1980er und 1990er Jahre steht weiterhin aus und sei hier nachdrücklich eingefordert. Was sich nach der schändlichen Tat des D. und unter seiner unbeirrten Beihilfe als neue Neue Popliteratur erhob, war untot, leer, seelenlos, lästig, Amen.[6]

Versöhnlicher Schluss: Schön bleibt, mag man mit Welts Blick für die materiellen Grundbedingungen der geistigen Arbeit feststellen, dass keine antiquarisch-archäologischen Glanzleistungen gefordert sind, um an die gesammelten Texte des bekanntesten Unbekannten einer kaum je über ihn selbst hinaus versuchten Schreibweise zu kommen. Für rund 20€ kann man seine beiden literarischen Langtext-Bände (irgendwann sehr spät doch noch bei Suhrkamp) und eine der hervorragenden journalistischen Kurztext-Sammlungen (Verlag A. Reiffer) gebraucht erhalten. Es ist alles da, alles darin: Lest den ganzen Welt, weil es geht! Nebenbei zu entdecken ist vielleicht hervorragende Popliteratur mit einem radikal verfolgten Erzählverfahren. Hauptsächlich zu entdecken ist sicherlich hervorragende Literatur mit einem radikal verfolgten Anliegen.

[1] Wolfgang Welt: Neue Popliteratur. Was wäre das Lesen ohne Musik. In: konkret 4/1986, Wiederabdruck in: Ders.: Die Pannschüppe und andere Geschichten und Literaturkritiken. Hg. v. Martin Willems. Meine: Reiffer 2020, S. 157-161.

[2] Wolfgang Welt: Buddy Holly auf der Wilhelmshöhe. Zuerst in Staccato. Musik und Leben. Hg. v. Diederich Diederichsen. Heidelberg: Kübler-Verlag Akselrad 1982. Wiederabdruck der ungekürzten Version in: Welt, Pannschüppe, S. 108-137. Die Zitate entstammen, wo nicht anders angegeben, dem Wiederabdruck.

[3] Frank Witzel: Ein ewiger Geheimtip. E-Mail-Wechsel mit Wolfgang Welt. Juli-Dezember 2015. In: Schreibheft 88/2017, S. 37-42.

[4] Der keinesfalls mit literarischer Verarmung durch Festlegung auf einige wenige erzählerische Verfahren und Formen einhergeht, wie etwa Manfred Essers klassisch-post-modernes rhizomatisches Erzählen im Ostend-Roman (1978) und Anne Webers antikisierendes Heldenepos Annette (2020) zeigen, die dasselbe Anliegen verfolgen.

[5] In Kalter Bauer in Bochum. Zuerst in Konkret Sexualität 1983, hier zitiert nach Welt, Pannschüppe, S. 144-150, S. 146.

[6] Tränen, Glockengeläut, Trickblende, Assoziation: Aus der Vergangenheit um 1930 interpretiert uns ein junger Max Horkheimer die Aversion D.s, die Bedingungen zur Möglichkeit des 1990er-Pop und seiner prinzipiell affirmativen Haltung materialistisch: „Weil der Unternehmer in der kapitalistischen Produktion weniger über den Gebrauchswert seiner Waren als über geschickte Produktions- und Verkaufsmethoden nachdenkt, interessiert ihn bei der objektiven Beurteilung einer gesellschaftlichen Tätigkeit überhaupt weniger der Inhalt als die Ausführung. In Deutschland wirft man daher heute der revolutionären Partei mehr die schlechte Durchführung als das Ziel vor“. Auf die kleinliche psychoanalytische Einlassung über das „geheime Schuldgefühl […], daß man nicht selber mitgetan“ hat, lassen wir uns nicht ein. Weiter materialistisch: „Die bürgerliche Denkweise ist dem Wirtschaftssystem angepaßt, mit dem sie entstanden ist. […] Die Feststellung, dass die Leitung unfähig sei, wird bewahrheitet, indem das Geschäft Bankrott macht und seine wirtschaftliche Funktion in Zukunft von anderen besser erledigt wird.“ Die Projektion noch zu vervollständigen Horkheimers Schluss, inklusive Pathos: „Die revolutionäre Karriere führt nicht über Bankette und Ehrentitel, über interessante Forschungen und Professorengehälter, sondern über Elend, Schande, Undankbarkeit, Zuchthaus ins Ungewisse, das nur ein fast übermenschlicher Glaube erhellt. [Wie er zum Beispiel notwendig ist, um in gewissen akademischen und kulturbetrieblichen Zusammenhängen an der Überzeugung von einem mehr als nur selbstreferenziell-spielerischen Big Sinn von Kunstprodukten und -produktion, von der Auseinandersetzung damit auszugehen. Aber weiter:] […] Stammt das ‚höhere Niveau‘ der bürgerlichen Kritiker, ihr feineres moralisches Gefühl nicht zum Teil aus ihrer Fernhaltung vom wirklichen politischen Kampf? Wäre aber diese Fernhaltung als allgemeine Maxime nicht das Todesurteil der Freiheit? Haben die Menschen mit ‚höherem Niveau‘ Grund, jene zu verdammen, die wirklich im Kampfe stehen?“ (Max Horkheimer: Dämmerung. Notizen in Deutschland. In: Ders.: Notizen 1950 bis 1969 und Dämmerung. Notizen in Deutschland. Hg. v. Werner Brede, Einleitung v. Alfred Schmidt. Frankfurt a. M.: Fischer 1974, S. 221-354, hier die Notiz: Diskussion über Revolution, S. 255-258.)

Wer mir den schönsten Essay zum Thema Postmoderne – Feuilleton, Theorie, Literatur und ihre ideologischen Grundlagen schickt, in dem erklärt wird, warum Young Horkheimer hier zwar mit teilweise morschem Gerät, aber doch gar nicht so weit weg von der Stelle gräbt, wo die Diederichsens im Pfeffer liegen, kriegt meine Dublette von Benjamins Kunstwerk-Aufsatz.

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