Schaustellen! – Ein geglücktes Experiment

15. Oktober 2018 - 2018 / Allgemein / soziotext / texttext

Baustellen zur Schau stellen, das wollte das ‚Literaturvolksfest‘ auf der Burg Hülshoff vor drei Wochen vor allem. Wir durften anlässlich unserer Medienpartnerschaft mit dem dort seit einigen Monaten neu gegründeten Center for Literature nicht nur den Instagram-Account kapern und vom Geschehen des Volksfest berichten, sondern haben uns zwei Tage lang auf dem Schaustellen! herumgetrieben und Eindrücke gesammelt. Wir haben festgestellt, dass diese Eindrücke unterschiedlich gewirkt haben, und uns daher entschlossen, beide Meinungen ungekürzt auf den Blog zu stellen (zu Theresas Eindrücken geht’s hier).

Work in progress

Eines vorab: Unbestreitbar zum größten Störfaktor für das ‚Volksfest‘ wurde das westfälische Regenwetter. Bei momentan über 20° C und Sonne pur im Oktober, ist die Erinnerung an den Dauerregen von vor drei Wochen schon fast wieder verblasst. Dass Zeltplanen zwar Regen (immerhin) aber nicht Kälte abweisen und man selbst mit mehreren Schichten und regenfesten Klamotten der klammen Feuchtigkeit nicht ausweichen konnte, hat die Besucheranzahl aber sicherlich verringert und sich auch auf die Stimmung auf dem Burggelände ausgewirkt.

Das Zurschaustellen der Baustellen meinte dabei nicht nur den zukünftig visuell erfahrbaren Umbau der Burg, der Anbauten und des Parks, der nächstes Jahr starten und bis 2022 andauern soll, sondern auch den Versuch, mit der Gründung des Center for Literature den Literaturbetrieb und seine Einbindung in die Gesellschaft zu sanieren. Schaustellen! versuchte daher (wie bereits während der Droste-Tage im August) ausgetretene Pfade zu verlassen und durch Konzept und Ausführung neuen Wind durch neue Formate (neben der ‚Lesung mit Wasserglas‘) in die Szene zu bringen.

Ich stimme Theresa in ihrem Artikel bei vielem zu: Es gibt Potenzial nach oben. Dennoch kommt es immer auf die Perspektive an und verglichen mit dem aktuellen ‚state of the art‘ im Literaturbusiness hat sich das Schaustellen! für mich als absolut positiv zu bewertende Veranstaltung herausgestellt: Es vernetzte konservative und moderne Formen der Präsentation von Literatur und versuchte auf vielfältige Art und Weise eine Beteiligung aller Parteien und einen Diskurs über Gesellschaft mit Künstlern und Publikum zu starten.

Stadt, Land, Literatur

Literatur ist nichts spezifisch Städtisches und so wirkte der Kommentar zweier Studierenden aus Köln bei der Enddiskussion etwas verquer, wenn sie zwar das generelle Vorhaben als unterstützenswert beschreiben, aber fragen, warum das Ganze denn ausgerechnet DORT stattfinden müsse, hätte man das Center for Literature nicht auch zentraler ansiedeln können. Diese Meinung fußt vor allem auf zwei Problemen: der tatsächlich ausbaufähigen Anbindung und einer verbreiteten Faulheit, die Komfortzone zu verlassen. Während man nur hoffen kann, dass sich an der Busanbindung bald etwas ändern wird, hatten die Veranstalter_innen mit dem Literatur-Karaoke-Taxi eine einstweilige Option für alle ÖPNV-Nutzer_innen geschaffen, welche die Zugänglichkeit des Festivals sicherstellte und zugleich inhaltlich mit einem ungewohnten Format auf das ‚Volksfest‘ einstimmte. Es darf nicht zur Pflicht für eine Kulturinstitution mit internationalem Anspruch werden, an einem Ort liegen zu müssen, wo ihr ‚Heimpublikum‘ möglichst einfach Zugang hat. Es ist hingegen wichtig, dass eine solche Institution auch Bevölkerungsgruppen erreicht, die kein genuines Interesse für Kultur erübrigen. Dass dies über die Lage passiert, ist vielleicht sogar die einzige Möglichkeit, nachhaltig einen Austausch zwischen städtischer und ländlicher Bevölkerung zu erwirken.

Um das ‚Heimpublikum‘ dennoch abzuholen, muss natürlich eine rudimentäre Erreichbarkeit gewehrleistet und zugleich das Programm so interessant sein, dass es das interessierte Publikum davon überzeugt, einen längeren Weg zurückzulegen, als vielleicht in das örtliche Literaturcafé oder Theater. Beides war gegeben.

Eine Schachtel Pralinen: Offenes Programm mit verschenktem Mehrwert

Gerade das Programm war beim Schaustellen!-Volksfest durchaus fähig, als Magnet zu wirken. Mit Marcel Beyer, Nora Gomringer, Katja Lange-Müller oder Florian Kessler waren (neben vielen anderen) Persönlichkeiten zu Gast, die in den vergangenen Jahren im Feuilleton und der Literaturszene unumgänglich waren. Mit mehr als 25 Künstler_innen, die teilweise zeitgleich performten, musste man sich entscheiden, wem man den Vortritt gewährt – und oft waren es für uns sogar die eher unbekannten Namen, die sich als lohnenswerte Neuentdeckungen herausstellten. Neben den klassischen Lesungen gab es einen begehbaren, durchsichtigen Presslufthammer als Kunstinstallation, eine atmosphärische Language-Performance in der Kapelle, den Auftritt einer „post-inklusive Performancecompany“ mit einer Jelinek-Interpretation (mein persönliches Highlight) sowie ein von Münsteraner Gymnasiast_innen geführtes Sprachlabor, in welchem die Besucher_innen mitwirken durften.

Das alles war über das gesamte, nun bald vor dem Umbau stehende Gelände verteilt (von den fünf Zelten, über die Kapelle bis zu der Vorburg) und zeitlich so gelegt, dass man mehr oder weniger gezwungen war, auch während der einzelnen Veranstaltungen die Orte zu wechseln. Die Offenheit des Programms hätte zu einem Austausch führen können: Gerade noch von den Eindrücken der Language-Performance oder der Karl May-Lesung des Theater Münsters beseelt, schon beim Austausch mit den Schriftsteller_innen im intimen Zirkuszelt. Verhindert hat diesen wünschenswerten Zustand zum einen das Wetter, welches ein beschwingtes Herumspazieren verleidet hat, zum anderen aber auch die Unfähigkeit der Teilnehmenden (sowohl Künstler_innen als auch Zuschauer_innen). Ein offenes Zirkuszelt lädt dazu ein, eben nicht die Frontallesung einiger Stellen des letzten Werkes abzuhalten. Vielmehr ermöglicht der runde Raum ohne visuellen Fluchtpunkt ein Vermengen von Produktion und Rezeption, ermöglicht der clowneske Ort ein Herabsteigen der Künstler_innen und ein Gespräch unter Gleichgestellten. Die Möglichkeit des Austausches wurde so trotz der Vielfalt und Offenheit des Programms leider auf die finale Gruppendiskussion beschränkt.

Gegen die Verpuppung der Szene

Man sollte nicht zu schwarz malen. Denn: Immerhin gab es diese Gruppendiskussion, die bei vielen ähnlichen Events ausgelassen wird. Man saß im Kreis, der Moderator in der Mitte, es kamen Beiträge zum Festival, zur Literaturszene und sogar von beiden anwesenden Gruppen: Zuschauer_innen und Autor_innen. Ob der Eintrittspreis gerechtfertigt ist, soll jedem selbst überlassen bleiben. Dass einige mit dem offenen Programm und dem (verregneten) Jahrmarktkonzept nicht viel anfangen konnten und die ‚Lesung mit dem Wasserglas‘ bevorzugen, war vorauszusehen. Schließlich kam aber auch etwas Entscheidendes und Grundsätzliches zur Sprache:

Die Autorin Kathrin Röggla fühlte sich nach der Betonung der gesellschaftlichen Funktion der Literatur eines Festival-Technikers dazu berufen, den literarischen Elfenbeinturm vehement zu rechtfertigen. Die Verteidigung war produktionsorientiert gedacht und hat dahergehend natürlich ihre Berechtigung. Jede_r Autor_in darf schreiben über was er oder sie möchte und sei das Thema oder die Form noch so speziell und für eine kleine Gruppe von Menschen wirklich interessant – dies steht nicht zur Debatte. Was jedoch zur Debatte steht, ist die Abkapselung einer Kunstform – der Literatur –, die aus der Perspektive der Rezipierenden wiederum immer unzugänglicher wird. Mit der Übereignung des fertigen Textes an die Öffentlichkeit muss den Autor_innen bewusst sein, dass sie in einen mehr oder weniger offenen Dialog mit den potenziellen Leser_innen treten, dass Ideen anders aufgefasst und uminterpretiert werden können.

Es ist wichtig und richtig, dass das Center for Literature den Faden in die Hand genommen hat, um die finale Verpuppung der Literaturszene aufzuhalten und als vermittelnde Instanz für mehr Austausch und Diskussion sorgen zu wollen. Es geht dabei weniger um die Besprechung oder Huldigung der Qualität der textbasierten Kunstform, sondern um das Zuwortkommenlassen von Meinungen (angeregt durch Literatur). Die offenen Zelte, die zeitliche Planung, das vielfältige Programm, die Einbeziehung diversester Akteur_innen von fern und nah sowie die raumgreifende Bespielung des Geländes – das alles waren Faktoren, die eine Diskussion ermöglichten. Es ergibt sich von selbst, dass eine solche veränderte Vorstellung eines Literaturfestivals nicht von heute auf morgen greifen wird. Die Diskussion über das Volksfest selbst und das Center for Literature als Institution ist aber der erste Schritt in die entsprechend Richtung und ein unter widrigen Wetterumständen geglücktes Experiment, das es weiter zu verfolgen gilt.

Jürgen Gabel

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Comments

  1. […] Seit Kurzem ist die altehrwürdige Burg, auf der Annette von Droste-Hülshoff zu Lebzeiten ihr Unwesen trieb, in den Händen des neu gegründeten Center for Literature unter der Leitung von Jörg Albrecht und seinem Team, das sich viel vorgenommen hat. Wir haben uns zwei Tage lang auf dem Schaustellen herumgetrieben und sind unterschiedlicher Meinung darüber, wie wir das Literatur-Event fanden (hier geht’s zu Jürgens Einschätzung). […]

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