
Es grünt so grün, die Blümlein blühn! – Zum Welttag der Poesie
21. März 2017 - 2017 / Allgemein / texttext
Titelfoto: © Kulturproleten
Frühling läßt sein blaues Band
Wieder flattern durch die Lüfte;
Süße, wohlbekannte Düfte
Streifen ahnungsvoll das Land.1)Lutz Hagestedt, Die Lieblingsgedichte der Deutschen, S. 22
So beginnt das wohl bekannteste deutsche Frühlingsgedicht und gleichzeitig nach Lutz Hagestedt eines der 100 Lieblingsgedichte der Deutschen: Er ist’s von Eduard Mörike. Für mich ist es das einzige Gedicht, dass ich (immer noch oder überhaupt) auswendig aufsagen kann, und stellt deswegen den Ausgangspunkt dieses Beitrags anlässlich des Welttags der Poesie dar.
Natürlich hätte ich mich auch an einen der in der Schule besprochenen Klassiker zurückerinnern können: Prometheus, Mondnacht, Todesfuge oder Der Knabe im Moor (um weitere Gedichte aus der Zusammenstellung Hagestedts aufzuzählen). Es ist aber heute nicht nur der Welttag der Poesie, sondern gestern war auch Frühlingsanfang und ich halte die Nähe der beiden Termine für keinen Zufall. Ich weiß nicht, ob es nur mir so vorkommt, aber der Lenz, das (Wieder-)Erblühen der Natur scheint eng mit der Geschichte der Lyrik verwoben zu sein.
Wie im Morgenglanze
Du rings mich anglühst,
Frühling, Geliebter!2)Heinz Schlaffer, Geistersprache. Zweck und Mittel der Lyrik, S.22
Möchte man dem Literaturwissenschaftler Heinz Schlaffer folgen, versucht dieser, indem er Goethes Ganymed zitiert, die Anrufung (hier: der Jahreszeit) als einen Zweck der Lyrik zu verstehen. Der Frühling hat als quasi göttliche Wiedergeburt der Natur eventuell dafür gesorgt, dass die Jahreszeit so präsent in der Dichtung aller Epochen vorkommt. Das Unerklärliche wird in den Gedichten von den Poeten adressiert. Schlaffer geht aber weiter und zeigt mit einem Zitat von Georg Trakl („Es schweigt die Seele den blauen Frühling.“3)Ebd., S. 27 ), dass selbst die Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts, die ohne Anrufung, ohne Ich und Du auszukommen vermochte, die Anrufung als eingeschriebene Konvention in die Gedichte ihrer Zeit übernahm.
Ob nun die Anrufung der Grund für das Verfassen von Lyrik ist, sei dahingestellt. Die Frage (und nun zurück zum Welttag der Poesie), was Zweck und Mittel der Poesie heute sein können und warum es den Welttag der Poesie überhaupt gibt, darf jedoch gestellt und soll hier beantwortet werden.
Poesie ist nicht vom Aussterben bedroht
Die Internetseite der UNESCO weist auf die Intention des Welttags der Poesie hin: „Der Welttag soll an den Stellenwert der Poesie, an die Vielfalt des Kulturguts Sprache und an die Bedeutung mündlicher Traditionen erinnern.“4)http://www.unesco.de/kultur/welttage/welttag-poesie.html Es wird weiter ausgeführt, dass es gerade im digitalen Zeitalter wichtig sei, den kulturellen Austausch und poetische Werke zu fördern.
Auch wenn die Veröffentlichungszahlen für Lyrikanthologien seit dem 19. Jahrhundert rückgängig sind, kann man kaum von einem Bedeutungsverlust der Lyrik oder gar der Poesie sprechen. Erst vorletztes Jahr hat der Lyriker Jan Wagner mit den Regentonnenvariationen den Preis der Leipziger Buchmesse erhalten. Dieses Jahr steht mit Steffen Popp erneut ein junger deutscher Lyriker auf der Shortlist, dessen Werk so nicht nur von der Jury in den Mittelpunkt des kulturellen Lebens gestellt, sondern dem ebendiese Relevanz mit der Nominierung bereits zugesprochen wird. Gerade mit Steffen Popp lässt sich zeigen, wohin die Lyrik uns heute noch zu bringen vermag.
Aufgrund der gegebenen Schwierigkeit
dass, was der Frühling zu brechen sich vornimmt, dein Herz ist
gehn Analogien zu Tieren und Pflanzen im Dunst auf
[…]
Dunst, in dem Tiere und Pflanzen am Ende selbst aufgehn
und du gehst darin auf, so dass Frühling ins Leere greift
[…]5)Steffen Popp, Dickicht mit Reden und Augen, S. 39
In diesem Auszug aus seinem Gedicht Moskau, altes Heft aus dem Band Dickicht mit Reden und Augen wird ebenfalls auf den Frühling referiert. Wir sind aber weit entfernt von einer Anrufung, wir sind ebenso weit entfernt von der deskriptiven Lyrik Mörikes. Popp bringt hier den Frühling über unmittelbare Nähe zu Begriffen wie „Kräfte“, „Permafrost“, „Tankstellen“, „massiv, gesträubt elektrisch wie Autofell“ oder „Kunstlicht-Dunkelheit“ in einen politischen Kontext. In Moskau, altes Heft erinnert der Frühling an politische Frühlinge, an Umbruch und plötzlich sind die „Analogien zu Tiere und Pflanzen“ semantisch eins mit Rohöl und werden zum Machtobjekt der Politik.
Poesie kann mehr
Aber – und das ist das Schöne an Poesie, das Schöne an dieser viel zu selten rezipierten Form von Literatur – sie kann noch viel, viel mehr! In Gespür für Licht von Kerstin Preiwuß sind die Gedichte in vier große Komplexe, in Frühling, Sommer, Herbst und Winter eingeteilt. Wenn es dann heißt:
Selten so einen Frühling erlebt.
Im April immer noch null Grad.
Der Ostwind fegt vom Ural bis in die Mittelgebirge.
[…]
Alles ist durchsichtig weil Laub fehlt.
Das ist wie Leben unter dem Röntgengerät.6)Kerstin Preiwuß, Gespür für Licht, S. 11
könnte man meinen, wir kehren zu Mörike zurück. Der Frühling wird aber im weiteren Verlauf nicht weiter thematisiert, die Jahreszeiten dienen lediglich zur Einteilung, als Zyklus und verarbeiten im Ganzen nicht das Auf und Ab der Natur, sondern eine Schwangerschaft und deren Abbruch. Poesie kann also auch ein Weg sein, die schwer verständlichen Dinge des Lebens durch die besondere Sprache vermittelbar zu machen. Sie kann es schaffen dort einzusetzen, wo der Verstand aufhört und das zu beschreiben, was nicht zu beschreiben ist.
Auf einen letzten Aspekt soll noch eingegangen werden, der in dem schon erschienen Beitrag Lyrik als Heilmittel gegen den Rechtsruck?! angesprochen wurde: Poesie kann es schaffen, eine Gesellschaft zu formen, ihr einen neuen Drall zu geben. Denn nicht nur für die Einzelnen, für das Individuum können Dinge erklärbar und nachvollziehbar gemacht werden, auch die Wahrnehmungen vieler, ihre Sichtweise auf die Welt und der Horizont ihres Denkens können durch Lyrik vergrößert werden. Ich möchte hier mit einem Zitat aus dem Gedicht Visite im Haus des verirrlichterten Denkens von Ron Winkler schließen, der mit Karten aus Gebieten vor Kurzem einen neuen Gedichtband voller Sprachwitz und gesellschaftlicher Relevanz veröffentlicht hat und deshalb nochmal zum Unterschreichen einer lebendigen und lesenswerten deutschen Lyrikszene zu erwähnen ist. Nutzt die immer länger werdenden Tage und poetisiert euch, denn „es ist Frühling, die Luft zwitschert in meinen Fingern“7)Ron Winkler, Prachtvolle Mitternacht, S. 28!
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