Der (Un-)Sinn unter der Oberfläche: menschlich reife Opfernarrative – Krachts ‚Eurotrash‘

3. Mai 2021 - 2021 / soziotext / texttext

Eurotrash (2021), das wäre ja gewissermaßen Faserland (1995), bloß eben in erwachsen, reif und metaphysisch (ja, wirklich!) und ein Vierteljahrhundert später, so PR und diverse Kritik. Musealisierung der Pop-Moderne und ihrer Mittel oder ihre Fortsetzung mit anderen Mitteln? Eine Suche nach Reife, Metaphysik und der Geschichte in der Geschichte.

Nein, das macht sich schlecht, erst sagen, dass das, ja klar, alles autofiktional ist, um es dann doch in toto autobiographisch zu lesen. Und das macht sich auch schlecht, nabelpopelnd in der eigenen metareflexiven Fertigkeit seitenlang bei der Frage stehen zu bleiben, ob es nun Autofiktion, -biographie, Sachbuch oder richtige Literatur, doch nichts von beidem und beides zugleich ist und damit bereitwillig nach den Meta-Ködern des Textes zu springen. Ehe man sich dessen so recht bewusst wird, betreibt man nach den Instruktionen des Textes, gar des Autors (oh Schreck!), Dekonstruktions-Aerobic und vergisst im Abstrampeln und Wettkampf um die flottesten Hirnschwünge, dass nicht nur Borges schon gern anspielungsreiche Realitätsverschiebungen geschrieben hat. Doch sorgt schon allein die mutmaßliche Inkarnation des Autors im Text allein mit stoppuhrgenau kalkulierbarer Regelmäßigkeit für feuilletonistische Akrobatik und literaturpreislichen Wettkampf auf allerhöchstem Niveau.

Statt sportlicher Euphorie der Konkurrenz wird hier also etwas Gegenkultur betrieben und es für spannender befunden, einer Erzählung, die so aufrichtig mit Geschichte befasst ist, über eben seine Geschichten auf den Leib zu rücken. Für Christian Krachts opus novum Eurotrash ist das zunächst einmal: Geschichte des Textes als Plot, Fabel, Handlung, you name it. Die ist, bei allen kunsthandwerklich versiert geschriebenen Überschreitungen der Genregrenzen, wenn es nach vielem Herumliegen und Nachdenken in Zürcher Hotelzimmern dann einmal los geht, durchaus konventionell konzipiert – und daher schnell erzählt: Ungleiches Paar zweier schräger Figuren, hier auch noch dynastisch-pikant Mutter und Sohn, die sich gegenseitig und damit jeweils sich selbst auf der Reise näherkommen.

Das Publikum liebt ungleiche Paare. Das Publikum liebt schräge aber dennoch oder daher menschliche Gestalten. Das Publikum liebt Roadmovies im Allgemeinen und vor allem, wenn sie ganz beiläufig und in allem Überfluss zwei wesentliche Ansprüche von Gelegenheits-, doch gleichwohl Distinktionsleser*innen befriedigen. Einerseits: das Bedürfnis nach intellektueller Legitimation, wenn literarische Anspielungen und die oben angerissenen Meta- und Ironisierungen des Textes als Text (wieder-)erkannt werden und Leser*in sich auf dieser Grundlage legitimerweise mit einem Abschlusszeugnis höherer Bildungsanstalten versehen fühlen darf, wobei volksnah und literaturpädagogisch niedrigschwellig für jeden Grad der Belesenheit bis hin zur Überhaupt-Nicht-Belesenheit gesorgt ist. Andererseits: das voyeuristische Bedürfnis, sich doch auf das autobiographische Angebot einzulassen, doch mal, ganz naiv freilich, zu schauen, wie das so ist, oder wie das vielleicht doch sein könnte in Welt und Alltag unserer liebsten und erfolgreichsten Autor*innen. Es ist dazu vorerst nicht viel zu sagen, es ist das, was die Welt-Literatur im Innersten zusammenhält. Schreibweisen der Popliteratur sind hierbei nichts Neues mehr, keine – sollten sie das vorher gewesen sein – besonders innovativen Erzählmittel, sondern Erfolg garantierende Zutaten für jedes neue Produkt einer unserer (vgl. Dichter, vgl. Denker) stärksten Marken auf dem Weltmarkt.

Geschichte von Eurotrash, zum Zweiten: die Textgeschichte, im verlegerisch und werkpoetisch vorbildlich konstruierten und nicht zu knapp strapazierten Spannungsbogen zu Krachts Debüt Faserland, der hier freilich ungemein interessiert. Und siehe: Vieles aus dem prominenten Verweis findet sich wieder, mehr noch kommt bekannt vor. Auch hier kann sich geneigtes Publikum in immanenter Exegese ergehen und entlanglesen an Ästhetizismus, Allüren und dem Eklektizismus motivischer Versatzstücke bis hin zur manierlichen Barbourjacke. Spätestens mit letzterer wird es aber interessant und eine Lektüre notwendig musealisierend, nicht nur, weil der Erzähler die Barbour offensichtlich für immer abgelegt hat, nicht nur, indem es freilich der Erzähler von Eurotrash ist, der einen Text namens Faserland geschrieben hat, sondern ebenso, weil dieser Erzähler seinem Debüttext mit großem Unverständnis gegenübersteht, ihn allenfalls im Entstehungskontext nachvollziehen kann. Zur zeitlichen Distanz der beiden Texte – also dem wahren und echten und realen Faserland zum realen, echten, wahren Eurotrash – kommt so eine inhaltliche Distanzierung, die sich auch im Drang des neuen Erzählers zum Sinn des Ganzen, des Lebens, des Seins, dem Hang zur verstehenden Rekonstruktion der Fakten gegen alle Ratlosigkeit, Verhandelbarkeit und Indifferenz, die im Faserländer präsent ist, ausdrückt. Sehnsucht nach „Realität und Sinn“, nach Relevanz und ein „Zustand der Resignation und Hoffnungslosigkeit“, der verlockend hinter den alltäglichen Hindernissen lauert, bilden die beiden mentalen Wegweiser auf der Reise, die, weiterer Unterschied zu Faserland, von Anfang an zielgerichtet ist: Auf das geographische Ziel hin, das Innere Afrika, mitten in der Schweiz, die psychiatrische Klinik in Winterthur, und auf das ideelle Ziel hin, die terra incognita der Familiengeschichte zu erschließen: „Junge, Junge, Du willst es aber wirklich wissen mit unserer Familie.“

Geschichte, Bedeutung drei also: der offensichtlich nicht ganz so sichtbare Dritte, der anscheinend vehemente Versuch, sich in Beziehung zu setzen zur eigenen Vorgeschichte, sich zu positionieren in den historischen Zusammenhängen. Vieles wird da erzählt von Großvätern und Vätern und Generationenkonflikten und wie diese sich auf das eigene Leben ausgewirkt haben mögen. Da ist vor allem der Großvater mütterlicherseits, mit seinen Freunden, primus inter pares ehemaliger SS-Offiziere, und solche auch weiterhin, nur eben mit anderen Berufen, weiterhin Teil einer mit Besitz und Kontakten gesegneten Oberschicht. Da ist dann andererseits der so unangenehme Vater mit seiner kleinbürgerlichen ideologischen und proletarischen ökonomischen Herkunft, die über diverse Karriereleitersprossen bis hin zur rechten Hand von Axel Springer sich im Hang zur peinlichen Überaffirmation großbürgerlichen Habitus’ äußert. Mitunter kommt es hier zu interessanten Klassen-Beobachtungen. Vor allem kommt es aber zur Feststellung, wie sehr belastend und auf welche Weise genau sich das auf Mutter und Sohnemann ausgewirkt hat.

Schuld und schlimme Peinlichkeiten setzen sich wirkmächtig fort in den Leben dieser beiden, sie werden zu Opfern der großen gesamtgesellschaftlichen wie auch der kleinen familiären Geschichte und Geschichten. Damit bleibt die umfassend erzählte Familiengeschichte nur recht einseitig umgewälzt: Schuld und Belastendes, Problematisches werden an Fixpunkte und Projektionsfiguren delegiert. Wie die moralische Verschuldung der Familienhäupter und deren ausgebliebene Sühne für die beiden Protagonist*innen jedoch überaus vorteilhaft ein ökonomisch sorgenfreies Leben à la Jetset, wie auch für Kontakte und Seilschaften für anderweitige Sorgenfreiheit im Berufsleben gesorgt haben kann, bleibt allenfalls angedeutet, nicht kommentiert und nicht bedacht. Es ist ein sehr bejammernswertes Stagnieren der Schuldreflexion, bei dem einem wie dem Erzähler wirklich ganz flau werden kann „vor Melancholie und verlorner Kindheit und dergleichen“, vor allem, wo marginale Überlegungen zur Konfrontation der beiden übermächtigen Vaterfiguren als fraglos unmöglich herausgestellt werden und sich die Bemerkung der eigenen Schuldhaftigkeit in allerlei Zusammenhängen der Gegenwart an eher pflichtschuldiges Zubedenkengeben erinnert, sich schließlich alles bedächtige Kopfwiegen mit bieder herabgezogenen Mundwinkeln in Wohlgefallen und Geschmunzel auflöst, so unvermittelt und folgenlos bleibt wie die Bekenntnis des Erzählers, in einer Tradition des Verschweigens, Verdrängens und Sublimierens zu stehen. Der Drang zur verstehenden Rekonstruktion der eigenen Vorgeschichte, die mehr als nur an der Oberfläche kratzt, muss mit solcher Viktimisierung, solcher selbstgerechten Zusprache eines Opferstatus seinem eigenen Vorhaben im Weg stehen und letztlich oberflächlich bleiben, in bekannten Narrativen verharren. Das ist die Bequemlichkeit, den eigenen Nazi-Hintergrund auf gänzlich selbstentschuldigende Weise zu bedenken und fremde Schuld vor die eigenen, daraus resultierenden Privilegien zu stellen, die dafür sorgt, dass viele erzählerische Projekte der NS-Familiengeschichtsaufarbeitung selbst ungefähr so gründlich apologetisch geraten wie die Entnazifizierung.

Und das wäre doch wieder sehr poppig: Die Hintergehung der Oberflächlichkeit, Sinn- und Relevanzsuche vorgeben, um dann doch wieder nur in absoluter subjektivistischer Selbstgerechtigkeit stehen zu bleiben. Noch anderes deutet darauf hin, dass die vermeintliche Reife des Romans eine Ausreifung dieses oftmals zynischen Lieblingsthemas des Pop meint. Zur Kontrafaktur gerät auch das Leitmotiv des Textes im bewussten Paradigma: Zur Sühne zumindest eines Teils eigener Schuldigkeit und eigener Profite aus der Familiengeschichte sollen die Gewinne aus den Waffenaktien der Mutter verschenkt werden, immerhin mehrere Hunderttausend Franken. Dass diese vollkommene Verweigerung gegen die Verwertungslogik des Kapitalismus im Lauf der Erzählung überhaupt nicht umgesetzt werden kann und schließlich doch nur Geld gegen Dienstleistung oder Ware getauscht wird – ist das Zynismus oder Unachtsamkeit? Es ist vor allem ein sehr guter Meta-Witz für Neoliberale über die ausbleibende belebende Wirkung verschenkten Geldes. Der Grad menschlicher Reife dieser popmodernen Schreibweise bemisst sich offensichtlich nach der Anzahl der Lachfalten ihrer apologetischen Kritiker.

Mehr oder weniger gut abgelagerte ironische Poetik würde jedoch zur Ehrenrettung obligatorisch werden, wenn die Rede auf die im Roman vermittelte historische Metaphysik kommt, denn hier verselbstständigt sich die im Klappentext versprochene „Reise in die Abgründe einer Familie“, wenn Geschichte zum Mysterium wird. Von schrecklichen, unaussprechlichen Geheimnissen ist da die Rede, deren „Deutung mir aber auf ewig verborgen bleiben sollte“ und entsprechend auch jetzt nicht gelingen will, von „ewig präsent[er]“ Vergangenheit, „aeternita a parte ante“ und „ewige Wiederkunft“ dräuen da vor sich hin und wachsen sich bis zur metaphorischen Hybris vom „großen Feuerrad, […] dem sich drehenden Hakenkreuz“ aus. Wem das zu groß ist, kann mit „dem endlosen Kaninchenbau der Erinnerung“ in etwa dasselbe gemeint fühlen, nämlich die metaphysische, sublime Konkretisierung des in diesem sinnstiftenden Schicksals-Paradigma sehr wörtlich genommenen Debord-Titels In girum imus nocte et consumimur igni – Wir irren des Nachts im Kreis umher und werden vom Feuer verzehrt. Gelsenkirchener Barock, nur eben als Weltbild.

So geraten die zahlreichen Geschichtchen, die der Erzähler seiner Mutter ad hoc vorträgt und in denen er selbst entscheiden kann, was vorgeht, in Opposition zum schieren Passieren und Widerfahren der Geschichte, welches es unmöglich macht, sich selbst als prinzipiell mitwirkenden, aktiven Akteur und Teil der historischen Prozesse zu begreifen. Man bleibt: Opfer, getrieben und geworfen, das eben das Beste daraus machen muss. Schuld sind und tragen die Anderen, und vielleicht auch die nicht so wirklich, wenn man dieses Geschichtsbild mal zu Ende denkt. „Tat tvam asi“, heißt es an einer Stelle, und die Reflexion, in deren Rahmen Adorno dieses hinduistische Credo zitiert, zeitigt eine Beobachtung, die auch auf das in Eurotrash konstruierte Bild von unverschuldeter Opferrolle durch schicksalhafte Historie bezogen werden kann: „Die Glorifizierung der prächtigen underdogs läuft auf die des prächtigen Systems heraus, die sie dazu macht.“[1] Ein eigenartig synkretistisches und paradoxes Weltbild, irgendwo zusammengestoppelt zwischen Schopenhauer und Heidegger, in deren Mitte auf dem Zeitstrahl bekanntlich die Dekadenz lungert, alles ein wenig dräuend, nur ein wenig breitenwirksamer formuliert. Und wahrscheinlich doch wieder gar nicht ernst gemeint. Sollte das der Fall sein, ließe sich der poppige Zynismus als Weltmodell und Schreibweise wohl als chronisches, perennierendes Leiden bei der Gegenwartserfassung als Zukunft einer Vergangenheit feststellen – die Fortsetzung des Pop mit anderen Mitteln.

So oder so: Wirklich progressiv wird hier weder erzählt noch gedacht, beinah muss man vom Gegenteil ausgehen. Man ist Opfer einer mythischen, allmächtigen, schicksalhaft sich ausagierenden Geschichte – vielleicht kann diese leidige, sehr bekannte, vielleicht sehr deutsche, jedenfalls sehr von Verantwortung befreiende Auffassung von eigener Geschichtlichkeit und Selbstpositionierung in historischen Prozessen ja erklären, wie so ein fatales Welt- und Selbstbild, bemäntelt in eine am Ende doch ziemlich belanglose, abgebrüht unterhaltende Erzählung, zu den besten eines deutschsprachigen Literaturjahres gezählt werden kann. Es scheint, dass Metaphysik und menschliche Reife keine guten Maßstäbe sind, wenn man zur Beurteilung von Texten schreitet.

[1] They, the people, in: Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003, S. 29f., hier S. 29. [= GS 4]

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  1. […] einem Vorgriff auf die Nachwehen des 1990er-Popliteratentums im Jahr 2021 ein Blick auf seine Anbahnung: Rainald Goetz’ Lesung von Subito beim Bachmann-Preis […]

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