Selbstekel, Konsum und ästhetische Pose – Krachts Faserland

1. Februar 2021 - 2021 / soziotext / texttext

Faserland (1995) – mutmaßlich der Gründungstext einer Popliteratur der 1990er Jahre. Oder auch nicht, nach den Selbstaussagen des Autors und den Ein- und Widersprüchen mancher Apologeten. Es bleibt unsicher, wie vieles im Text. Oder kommt man beim Nachforschen und Nach-Denken dieser Introspektive doch zu etwas wie einer Aussage? Gelegenheit, zwischen Oberflächenwahrnehmung, aggressiver Ratlosigkeit, Partylifestyle und Selbstekel etwas genauer zu suchen.

Karin studiert BWL in München. Das erzählt sie wenigstens. Genau kann man sowas ja nicht wissen. Sie trägt auch eine Barbourjacke, allerdings eine blaue. Eben, als wir über Barbourjacken sprachen, hat sie gesagt, sie wolle sich keine grüne kaufen, weil die blauen schöner aussehen, wenn sie abgewetzt sind. Das glaube ich aber nicht. Meine grüne Barbour gefällt mir besser. Abgewetzte Barbourjacken, das führt zu nichts.

Mit nur kleinen Nuancen in den lokalen Spezialitäten und Markennamen, geht es nach dieser Eröffnung auf Sylt durch die BRD (alt), ein paar Tage lang in der ersten Hälfte der 1990er, anscheinend wahl- und ziellos. Und das geht doch ganz gut, wenn man sich dem Erzähler, dem Autor vermutlich ein wenig mehr angleicht und das Ganze mit Humor und ätzender Verachtung, ganz und gar ironisch metaisiert. Man könnte meinen, ein solcher Auftakt macht nichts Anderes möglich, aber doch scheint man Faserland ganz und gar unironisch identitätsstiftend lesen oder gelesen haben zu können. Aber genau kann man sowas ja nicht wissen.

Wieder begegnet uns hier einer dieser ganz Ratlosen, mit denen die ‚Szene‘ zwischen Glamour, Intelligenzija und Subkultur der 1990er Jahre voll gewesen zu sein scheint. Der hiesige Ratlose taumelt durch immer gleiche Stationen von Reise, Ankunft, Exzess, Freundschaftsende und Flucht in die nächste Parallelweltsituation hinein. Er lernt dabei nicht viel, sein Denken befasst sich geradezu zwanghaft mit dem eigenen Unwissen, das aus der bekannten indifferenten Mutmaßlichkeit der Dinge und in eine Weltsicht umfassender Unsicherheit resultiert. Mehr oder weniger sicher bleibt nur weniges in Kindheitserinnerungen, in Fiktionen von Biographien, in Anekdoten- und Schulwissen über den Nationalsozialismus. Für die Probleme der Gegenwart bleiben die Oberfläche und das schlecht Belanglose und Triviale, Erscheinungsbilder, Markennamen und nicht mehr als über die Wirklichkeit hinwegstreifender Amüsierdogmatismus reserviert, nicht ohne vor dieser Gegenwart und dem eigenen Verhalten in ihren Koordinaten einen umfassenden, nicht immer benennbaren Selbstekel zu empfinden. Lebenskunst, wie sie hier präsentiert wird, spiegelt Sicherheiten vor, die oft nicht mehr sind als betont schnoddrige Geschmacksurteile oder -verurteilungen ohne Begründungen – selbstverständliche Apperzeption wird suggeriert, wo nicht mehr als (fehlerhafte) Perzeption vorhanden ist.

Ernst nehmen kann man den Erzähler dabei sicher nicht, geht es schließlich in den Selbstpositionierungen an den Provokationen der Gegenwart nur um recht leere ‚Probleme‘, wie Kuchen am Spätnachmittag, den Status von Prosecco zwischen Champagner und Wein oder die ständig versicherte Schönheit von „Mädchen“. An der Stelle der Konkretionen lohnt der Versuch der Vertiefsinnigung, überhaupt der Versuch, ein Überzeugungssystem festzustellen, die Mühe nicht und soll es wohl auch nicht, da die meisten Aussagen zum Jetzt der 90er, wo nicht durch die unbewussten Widersprüchlichkeiten des Ich-Erzählers, da durch konsequente Indifferenzierung seinerseits relativiert werden. Nicht nur, dass die meisten seiner Einschätzungen und Vermutungen möglicherweise falsch sind: falsch und richtig von Stellungnahmen, vom Lebensentwurf selbst spielen überhaupt keine Rolle, solang man die notwendige amüsierte Distanz zum Leben, das Diktat des Eigentlich-Alles-Egal wahrt. Herausgekehrte Dumpfheit, arrogante Ignoranz und stupide Selbstsicherheit gelten im Kreisschluss als Beweis, dass es schon so stimmen wird.

Angedeutete Zweifel an der Richtigkeit seiner dekadenten Lebensart sind argumentativ gleichrangig mit der Relativierung jeglicher verlässlicher Aussagen im Modus aggressiver Ratlosigkeit und offensiven Konsumismus‘. Gewissermaßen stellt Kracht hier eine Weltanschauung vor, die kindliche Identität mit der Welt – die hier eben die Welt des markenfixierten Konsums im nunmehr globalisierten Kapitalismus ist –, mit sich selbst in jeder Situation unter gewaltsamer Negation aller Fragen nach dem Warum oder (selbst-)reflexiven Einordnung wiederherzustellen versucht. Man kann mit Faserland eine solche Haltung zur Wirklichkeit sehen, wenn auch nicht nachsehen lernen, dafür sind der erzählende Zivilisationsschmerzensmann und seine Leiden an der scheinbaren Ausweglosigkeit der eigenen Situation einfach zu unsympathisch. Das alles nur oberflächlich ironisch oder ironisiert zu lesen und hinzunehmen als notwendige intellektuelle Folge ständiger Besäufnisse ohne zwischendurch anständig zu essen, ist unbefriedigend.

So ausweglos und selbsterklärend, wie es unter perspektivisch konsequenter Ausblendung aller Reflexion und Auswege scheint, ist das nämlich gar nicht[1] – oder höchstens vor dem Hintergrund der absurden Auswüchse von ‚Subkultur‘, wie sie dem Erzähler begegnen. Versuche zur Erfassung der Lifestyle-Milieukrankheit werden zwar ansatzweise gemacht:

Es gibt so Momente, in denen ich alles genau verstehe […] und dann plötzlich entgleitet mir wieder alles. Ich weiß, daß es mit Deutschland zu tun hat und auch mit diesem grauenhaften Nazi-Leben hier und damit, daß die Menschen, die ich kenne und gern habe, so eine bestimmte Kampfhaltung entwickelt haben und daß es für sie nicht mehr anders möglich ist, als aus dieser Haltung heraus zu handeln und zu denken.

Festgehalten, durchdacht oder auf die eigene Lebenshaltung bezogen wird eine solche Haltung zur Wirklichkeit im Prinzip der Apperzeptionsverweigerung und -suggestion nicht. Die Kampfhaltung, die der Erzähler hier feststellt, ist aber auch seine eigene, und bezeichnenderweise können ihr nennenswerte Inhalte über den Modus prinzipieller Ablehnung und Verweigerung nicht zugeordnet werden. Damit ist sie – im Übrigen wie die soziale Herkunft aus der Schicht der mehr oder weniger Reichen und Schönen – weder erstrebenswert noch belastbar zur Bewältigung von Realität. Kracht zeigt das ohne die explizite Erkenntnis seines ‚Helden‘, indem er ihn verbissen an und mit seiner Kampfhaltung scheitern lässt: Jegliche Versuche, Sicherheiten herzustellen, müssen fehlgehen, indem das Leiden an der schrecklichen Oberflächlichkeit des dargestellten Milieus, der Ekel vor der eigenen Zugehörigkeit und der scheinbar notwendigen amüsierten Distanz zu den Dingen keinerlei kritischen Impetus haben. Wer mit so einer Unter-Haltung durchs Leben geht, der leidet zwar viel daran, aber der macht nichts und macht nichts daraus. Dass derlei Haltung und Herkunft nicht nur kaum belastbar oder erstrebenswert, sondern darüber hinaus auch nicht verpflichtend sind, kann Kracht mit seiner Art perspektivischer Konsequenz ebenso wenig zeigen, wie die Gründe und Konsequenzen des Beharrens auf Selbstekel und Indifferenz.

Das betrifft u. a. die Einsicht, dass neben aller je situativen militant ratlosen Selbstüberhöhung die einzige inhaltliche ideologische Sicherheit in der Nonchalance und Selbstverständlichkeit des Geldhabens und -ausgebens, kurz: des reinen Konsums besteht und die kaum problematisierte Fähigkeit dazu den Erzähler eben doch als Teil eines wirtschaftlichen Systems ausweist. Das lässt sich durch die hermetische Introspektion ebenso vergessen, wie dass eben dieser scheinbar banale Sachverhalt der wirtschaftlichen Verfassung der Lebensumwelt – und da ist es egal ob in diesem-unserem wiedervereinigten Marktwirtschaftsdeutschland oder der Schweiz –, Grund, Legitimation und Ermöglichung für sein identitätsloses Zugehörigkeits- und Mitläufer-Leiden ist. Einsicht in die absorbierende Macht der Marktwirtschaft gibt es nicht, weil fast alle Figuren qua Milieu als reine Profiteure und Konsumenten gar nicht und absolut Teil von ihr sind. Jedoch wird mit deren Pseudo-Haltung der Oberflächlichkeit, Indifferenz und einhergehender Reflexionsverweigerung der Zustand, der so leidend macht und so anekelt überhaupt nicht transzendiert, sublimiert oder ästhetisiert, sondern lediglich paradoxerweise erst erträglich im Zustand seines ‚Erleidens‘ durch Vorgabe scheinbar notwendiger, alternativloser Identität mit sowohl Oberflächlichkeit als auch Konsum. Im Weiterdenken der Oberflächenfixierung und des an sich selbst leidenden halbherzig pragmatischen Konsumismus‘ als Milieukrankheit der 90er und mittlerweile vielleicht pandemischer Haltung zur subjektiven Wirklichkeit des Neoliberalismus zeigt sich damit eine gravierende Tiefenstruktur als gänzlich unkritische Haltung zu einem gegebenen Zustand, indem sich der vorgeblich kritisch-distanzierte Modus als unfähig zu mehr als ironisierender De- und als gänzlich ungeeignet zur verstehenden Rekonstruktion herausstellt.

Darüber hinaus sind ‚Kritik‘ und ‚Selbstkritik‘ durch Leiden und Selbstekel nicht nur unfreiwillig stabilisierend, sondern als oberflächliche, ästhetische Pose, die zum weiteren Posieren den leidensverursachenden Zustand benötigt, überaus affirmativ. Indifferent-dynamische Ratlosigkeit der Schein-Sicherheiten wird so faktisch-statische Affirmation eines Konsumsystems, dem die Schickeria nur ein, wenn auch enorm kapitalstarker, Abnehmer von vielen ist. Das zu zeigen wird durch die Art, wie Kracht seine Erzählperspektive mit Handlung füllt, verhindert: die Stationen der Reise durch Deutschland sind selbst jeweils in sich so indifferent und insgesamt dem Geschilderten gegenüber affirmativ, weil ihre Erzählung es selbst ist, wenn sie die Aporien der besagten Unter-Haltung zwar aufzeigt, aber nichts dieser Haltung anderes, was irgendeinen Ausweg zu tatsächlicher, verbessernder Kritik ermöglichen würde. Die doppelte pubertär-provokative Suggestion, über die Konsequenzen der ästhetischen Pose, konsumistischen Oberflächlichkeit und den bloßen Schein der Ausweglosigkeit im Bild zu sein, die Koketterie mit der umfassenden Affirmation machen den zynischen Gehalt der selbst posenhaften Provokationen der Tristesse-Royale-Clique aus. Anders gesagt: Das Problem ist das der innersystemischen Autonomie als (un-)bewusster Subordination, die mittels ästhetizistischer Umwertung der (mutmaßlichen) gegenwärtigen Oberflächlichkeit dieser etwas Positives abzugewinnen sucht. Indem alle Alternativen als irgendwie lächerlich dargestellt werden, gibt diese sich alternativlos – und wird selbst ideologische Arbeit. Man könnte von Faserland ausgehend sämtliche Texte Krachts als Versuche der Disqualifikation aller anderen als dieser ästhetizistischen Ideologie lesen.

Ende. Gut. Ob der Erzähler nun weitermacht, aussteigt oder sich ertränkt, ist egal, indifferent. Seine ‚Kritik‘, seine Leidenspose hat nichts geändert, nur verstetigt und bestätigt, allein er und ein paar andere wurden davon ein bisschen aufgerieben, shit happens. Man kann das „extrem amüsant“ finden, es zu Lifestyle und Generationsgefühl erklären, egal ob man zu der entsprechenden Alterskohorte gehört oder nicht, da sich lediglich konkrete Situation und Bezüge geändert haben. Nur sollte man nicht vergessen: Eine reflexiv fundiertere, zur Orientierung in der Lebenswelt der Oberflächen geeignetere Gegenposition zur leidenden Indifferenz gibt es oder ist mindestens möglich. Deren Art muss nun selbsttätiger Denksport nach der Lektüre bleiben. Tipp: Abgewetzter Zynismus als Koketterie mit halbwegs bewusster unzulänglicher Selbstpositionierung zwischen Oberflächen, Party und Konsum, das führt zu nichts.

[1] Und so eine Konsequenz erfordert umgekehrt die Perspektive nicht zwingend. Lektüreempfehlung: Enno Stahls Winkler, Weber (2012).

› tags: Barbour / Faserland / Ideologie / ideologiekritik / Kanon / Kracht / Kritik / Literaturkritik / Museum der Popmoderne / Popliteratur / Popmoderne / Postideologie / Postmoderne /

Comments

  1. […] einnehmen. Windet man sich dann einige Gedankengänge weiter, kommt man für Soloalbum wiederum zum Faserland-Problem: Der Hinweis allein, dass es sich mit diversen Haltungsschäden und ‚gnadenloser‘, […]

  2. […] an Ästhetizismus, Allüren und dem Eklektizismus motivischer Versatzstücke bis hin zur manierlichen Barbourjacke. Spätestens mit letzterer wird es aber interessant und eine Lektüre notwendig musealisierend, […]

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