„Wir sind keine Barbaren“, oder doch? – Teil I: Von Fremdenangst und der Angst vor dem Fremden

15. September 2016 - 2016 / Allgemein / bildtext / soziotext

Das Theaterstück Wir sind keine Barbaren! von Philipp Löhle wurde bereits 2014 in Bern uraufgeführt. Anlass war eine Volksabstimmung in der Schweiz über Zuwanderung gewesen.[1] Der Arabische Frühling und dessen Folgen beschäftigten damals die Schweizer. Doch auch zwei Jahre später ist Löhles Theaterstück aktueller denn je, wirkt es doch wie eine Ansammlung von Äußerungen zum Diskurs über die Flüchtendensituation in Deutschland heute. Und so ist es nicht verwunderlich, dass nicht nur in Berlin, Hamburg und Köln derzeit wieder Vorstellungen stattfanden und -finden, auch zahlreiche kleinere Schauspielhäuser haben das Stück wieder im Programm.[2]

Im Mittelpunkt des Dramas steht Angst, insbesondere die Angst vor dem Fremden. Gleichzeitig spielen Grenzen und deren Überschreitung sowie der ‚Mythos Europa‘ und das Kulturverständnis Europas eine Rolle. Diese 6-teilige Artikelreihe, die in Zusammenarbeit mit der Germanistik-Studentin Johanna Kaschik entstanden ist, versucht, verschiedene Aspekte des Theaterstücks in ein Verhältnis zueinander zu setzen.

15.9. Teil I: Von Fremdenangst und der Angst vor dem Fremden

19.9. Teil II: Kaputte Beziehung, Eifersucht, Aggressionen – die Ängste der Figuren

22.9. Teil III: Das Weltbild der Figuren – Grenzen und Grenzüberschreitungen

26.9. Teil IV: Die Grenz(über)gänger

3.10. Teil V: There’s a man going round taking names (Johanna)

6.10. Teil VI: Die Frage nach der Identität Europas: Der Mythos (Johanna)

 

 Worum es in Wir sind keine Barbaren! geht:

Wir sind keine Barbaren! handelt von zwei benachbarten Paaren, deren scheinbar heile, gutbürgerliche Welt plötzlich durch einen Eindringling von außen gestört wird: Barbara und ihr Partner Mario freunden sich schnell mit den neuen Nachbarn Linda und Paul an. Das Verhältnis ist ein oberflächliches und ihr Geplauder geht zunächst nicht über das neue Fernsehgerät oder Lindas Yoga-Kurse hinaus. Doch dann klopft des Nachts ein Fremder an die Tür. Die einen weisen ihn ab, die anderen lassen ihn herein. Und schon dreht sich alles nur noch um diese Person, von der man nicht weiß, ob sie Bobo oder Klint heißt, ob sie eine schwarze Hautfarbe hat oder „[m]ehr so Nougat“[3], ob sie aus Afrika stammt oder aus Asien. Das Kuriose und Interessante daran: Bobo/Klint betritt in dem Theaterstück kein einziges Mal die Bühne und kommt kein einziges Mal zu Wort. Und so ergeben sich wilde Spekulationen um ihn, heizen sich die Gerüchte, Vorurteile und Klischees gegenseitig an und treten Ängste zutage, die scheinbar lange schon in den Gedanken der Figuren keimten und nun in Bobo/Klint ein Ventil gefunden haben. Einzig Barbara hat keine Angst. Sie verteidigt Bobo/Klint mit ihrer „Gutmenschenscheiße“[4] gegen die „besorgten Bürger“, doch ihre Motive sind anders als zunächst vermutet. Der verbale Konflikt unter Nachbarn spitzt sich mit Fortlauf des Theaterstücks immer mehr zu und mündet schließlich in eine Katastrophe: Barbara wird ermordet und Bobo/Klint für den Täter gehalten; Beweise dafür gibt es keine.

Teil I: Fremdenangst und die Angst vor dem Fremden

Das Denken und Handeln der Figuren in Wir sind keine Barbaren! wird zu großen Teilen von einem Gefühl der Angst bestimmt. Der Begriff Angst an sich ist schwer eindeutig zu definieren. Die Literaturwissenschaftlerin Maren Lickhardt formuliert das wie folgt:

„Angst weist als abstrakter Begriff wie Liebe, Glück, Wut und vermutlich alle Emotionen keine unmittelbar fassbare Referenz auf, hat also keinen konkreten Gegenstand als Entsprechung, so dass es – nicht nur im poststrukturalistischen Sinn – kaum vorstellbar ist, was sich hinter ihm verbirgt, was er bedeutet, was mit ihm zum Ausdruck gebracht werden soll. Angst ist völlig un- oder unterbestimmt.“[5]

Der Philosoph Søren Kierkegaard grenzte seinen Angstbegriff beispielsweise ein, indem er Angst von Furcht unterschied; in der Psychologie und Psychiatrie hingegen wird Angst in verschiedene Phobien unterteilt. Ausdrucksformen von Angst sind sehr unterschiedlich und daher schwer semantisch zu fassen. Ein Aspekt der Angst ist die Fremdenangst, die auch in Wir sind keine Barbaren! fast ausschließlich thematisiert wird.

 

Um das Phänomen der Angst auf die Fremdenangst einzugrenzen, wird in diesem Beitrag eine Einteilung des Soziologen David Riesman verwendet. Riesman unterschied zwischen drei verschiedenen Typen von Sozialcharakteren: dem Traditionsgeleiteten, dem Innengeleiteten und dem Außengeleiteten. Insbesondere die Befindlichkeiten des letzten Typus, die Riesman „diffuse Angst“[6] nennt, sind dabei von Interesse, finden sie sich doch auch im Denken der Figuren in Wir sind keine Barbaren! wieder. Diffuse Angst beschreibt der Linguist Clemens Knobloch nach Riesman als:

„tief verinnerlicht, ohne eigentlichen Anlass, aber durch äußere, insbesondere massenmediale Signale leicht zu aktivieren und zu lenken. Die innere ‚Radaranlage‘ macht den Außengeleiteten hoch empfindlich für neu aufkommende (oder strategisch platzierte) Angstthemen. An diesen kann die diffuse innere Angst andocken, kognitiv fasslich und bebildert werden.“[7]

Diese neu aufkommenden oder strategisch platzierten Angstthemen werden insbesondere durch mediale Berichterstattung und die Ausbreitung entsprechender Themen über soziale Netzwerke provoziert. Selbst einige wenige Berichte von staatlicher Seite, die Anspruch auf Neutralität erheben müssten, scheinen zu einer Wertung zu neigen, so zumindest liest es sich im Migrationsbericht der Schweiz (hier aus dem Jahr 2011, dem Jahr der Uraufführung von Wir sind keine Barbaren!), in dem es u.a. heißt: „Trotz des nur geringen Anteils, den die Asylsuchenden am gesamten Ausländerbestand [in der Schweiz] ausmachen (2,5%), sorgt die Asylfrage in der Bevölkerung, der Politik und in den Medien weiterhin für kontroverse Diskussionen.“[8] Weiterhin ist die Rede von „nordafrikanischen Neuankömmlinge[n,] die teilweise ein asoziales, deliktisches, zuweilen aggressives Verhalten an den Tag legten“.[9] Es würden dadurch „spürbare Spannungen in den Gastkantonen und der lokalen Bevölkerung hervorgerufen und auf Landesebene eine rege Polemik zu diesem Thema ausgelöst.“[10] Der in der Schweiz offensichtlich sehr kontrovers und seit spätestens 2015 insbesondere auch in Deutschland wieder verstärkt geführte Diskurs über Flucht und Migration enthält oft auch Angstthemen. Der Diskurs über das Fremde, über Migration und „Überfremdung“ wird teilweise instrumentalisiert und zur Herstellung sogenannter Denormalisierungsängste in der Bevölkerung genutzt.[11] Diese gründen sich hauptsächlich auf der „Angst vor Status- und Sicherheitsverlusten“.[12]

 

Stigmatisierung

Einen wichtigen Beitrag, um die Angst vor dem Fremden zu verstehen, leistet der Kulturwissenschaftler Falko Schmieder in einem Artikel zu Stigmatisierung. Diese charakterisiere sich durch „die dichotomische Grundstruktur von Fremd- und Selbstzuschreibung“.[13] Demnach ist das Oppositionspaar eigen – fremd für die Stigmatisierung tonangebend, wobei Schmieder der Annahme von Foucault, „dass die Unterschiede von Eigenem und Fremdem nicht einfach natürlich gegeben sind, sondern im Diskurs allererst erzeugt und profiliert werden“[14], recht gibt.

Schmieder betrachtet das Phänomen Stigmatisierung weiterhin aus einer psychoanalytischen Perspektive und stellt fest, dass das „Andere“ so konstruiert ist, dass der Einzelne Dinge, die er an sich selbst nicht wahrhaben will und verdrängt, ebendiesem „Anderen“ zuschreibt.[15] „Stigmatisierungsprozesse sind daher immer auch als Ausdruck verunsicherter Identitäten zu sehen, die durch Ausgrenzungs- und Fremdzuschreibungen restabilisiert werden sollen.“[16] So sind zum Beispiel Arbeitslosigkeit, Inflation oder ökonomischer Bankrott Umstände, die sich Erklärungen und vor allem der persönlichen Kontrolle des Einzelnen entziehen und somit unverhinderte Auswirkungen auf seine Existenzgrundlage haben.[17] „Für unerklärliche Zusammenhänge wird ein Schuldiger gefunden, und seine Adressierung stellt eine handhabbare Lösung der Krise in Aussicht.“[18] In Wir sind keine Barbaren! ist der „Schuldige“ in doppelter Hinsicht „der Fremde“: Bobo/Klint ist zum einen Projektionsfläche für alle möglichen Ängste, die die anderen Figuren umtreiben, zum anderen wird er schnell als vermeintlicher Mörder Barbaras identifiziert, ohne jegliche Beweise.

 

19.9. Teil II: Kaputte Beziehung, Eifersucht, Aggressionen – die Ängste der Figuren

 

[1] M. Halter: Unser Fremdenhass ist doch ganz schön zivilisiert, in: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buehne-und-konzert/unser-fremdenhass-ist-doch-ganz-schoen-zivilisiert-philipp-loehles-wir-sind-keine-barbaren-13000842.html.

[2] Es genügt, einmal nach den Begriffen „Wir sind keine Barbaren; Vorstellungen“ in Internetsuchmaschinen zu suchen.

[3] Ph. Löhle: Wir sind keine Barbaren. Rowohlt Theater Verlag, 2014, S. 33.

[4] Ebd., S. 38.

[5] M. Lickhardt: Narration. In: L. Koch (Hg.): Angst. Ein interdisziplinäres Handbuch. Metzler, Stuttgart 2013, S. 189.

[6] Vgl. C. Knobloch: Migration und Demographie. In: L. Koch (Hg.): Angst. Ein interdisziplinäres Handbuch. Metzler, Stuttgart 2013, S. 352.

[7] Ebd., S. 352.

[8] Migrationsbericht Schweiz 2011, S. 10

[9] Migrationsbericht Schweiz 2011, S. 10

[10] Migrationsbericht Schweiz 2011, S. 10

[11] F. Schmieder: Kommunikation. In: L. Koch (Hg.): Angst. Ein interdisziplinäres Handbuch. Metzler, Stuttgart 2013, S. 201.

[12] C. Knobloch: Migration und Demographie. In: L. Koch (Hg.): Angst. Ein interdisziplinäres Handbuch. Metzler, Stuttgart 2013, S. 352.

[13] F. Schmieder: Kommunikation. In: L. Koch (Hg.): Angst. Ein interdisziplinäres Handbuch. Metzler, Stuttgart 2013, S. 201.

[14] Ebd., S. 201.

[15] Ebd., S. 201.

[16] Ebd., S. 201.

[17] Vgl. ebd., S. 200.

[18] Ebd., S. 200.

Theresa Langwald

› tags: Angst / Besorgte Bürger_innen / Drama / Europa / Flüchtendensituation / Flüchtlingskrise / fremd / Fremdenangst / Gegenwartstheater / Grenzen / Identität / Kultur / Migration / Philipp Löhle / Rassismus / Theater / Wir sind keine Barbaren! /

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