„Wir sind keine Barbaren“, oder doch? – Teil IV: Die Grenz(über)gänger

26. September 2016 - 2016 / Allgemein / bildtext / soziotext

Grenz(über)gänger werden in der Literaturwissenschaft als „revolutionäre Elemente“ bezeichnet. Sie schaffen es, Strukturen zu durchbrechen und sind damit „Helden“. In Wir sind keine Barbaren! sind das Barbara und Bobo/Klint – doch ihre Motive sind gänzlich verschieden.

 

1. Bobos/Klints Grenzen

Bobo/Klint kann als „Held des offenen Raumes“[1] ausgemacht werden. Aus diesem offenen Raum, der für ihn Gefahr und Bedrohung bedeutet – vielleicht durch Krieg, vielleicht durch Hunger oder durch Unterdrückung, Verfolgung, Unfreiheit, schlechte Arbeitsbedingungen, schlechte Bezahlung; viele Gründe sind denkbar –, möchte er in den in sich abgeschlossenen Raum der Europäischen Union fliehen, weil er sich dort ein besseres und freies Leben erhofft. Auf dem Weg dorthin muss er aber nicht nur territoriale Grenzen überwinden, sondern auch gesellschaftliche, soziale, kulturelle und mentale Grenzen. In das Weltbild der in Wir sind keine Barbaren! repräsentierten Personen passt Bobo/Klint offensichtlich nicht: Sie sehen ihn als Fremden, er ist ihnen nicht willkommen, es wäre ihnen lieber, er wäre gar nicht erst zu ihnen gekommmen.

 

2. Barbaras Grenzen

Doch nicht nur Bobo/Klint überschreitet Grenzen. Auch die Figur Barbara verhält sich nicht den Regeln des Weltbilds ihrer Gesellschaft entsprechend. Wenn Bobo/Klint der Held des offenen Raumes ist, ist sie die Heldin des geschlossenen Raumes. Aus diesem will sie ausbrechen, da er für sie Einengung, Unfreiheit und somit Gefahr und Bedrohung – auf eine andere Art und Weise als es bei Bobo/Klint der Fall ist – bedeutet. Der geschlossene Raum, in dem sie sich befindet, kann gleichgesetzt werden mit ihrer Beziehung zu Mario, die schon seit längerem nicht mehr gut läuft. Das wird zum Beispiel in der ersten Szene offensichtlich, in der Barbara Geburtstag hat: Sie hatte sich ein Klapprad gewünscht, er aber schenkt ihr das neueste Modell eines TV-Gerätes, über das er sich mehr zu freuen scheint als sie sich: „(Barbara öffnet vorsichtig den Karton) / Barbara: Ist das ein Klapprad? Mario, ist das wirklich … Du bist doch verrückt. / Mario: Ein was? / Barbara: Das ist … / Mario: Ja! / Barbara: Das ist … Das ist ja ein Fernseher. / Mario: Ja!! Nein! Das ist kein Fernseher. Mein Schatz. Das ist … der Wahnsinn von einem Fernseher. […]“.[2] Explizit wird es später im Stück noch einmal ausgesprochen: „[…] Die haben ein Beziehungsproblem“[3] und „Barbara hasst den Fernseher“.[4] Mario selbst fällt schließlich auch auf, dass Barbara „[…] den ganzen Tag mit Klint [verbringt], und wenn ich nach Hause komme, muss sie los … wir … weißt du, es läuft auch nichts mehr …“[5] Doch diese Erkenntnis kommt zu spät: Kurz darauf sind Barbara und Bobo/Klint verschwunden, miteinander „durchgebrannt“, wie es die anderen Figuren nennen.[6]

Barbara sieht in Bobo/Klint ihre eigene Rettung, um der Beziehung zu Mario zu entfliehen, vielleicht auch, um der Gesellschaft zu entfliehen, in der sie lebt. Denn gesellschaftlich gelingt es der Figur Barbara scheinbar nicht, sich einzufügen. Sie wird von ihren Mitmenschen nicht verstanden, wenn sie sich als Einzige für Bobo/Klint einsetzt, ihm hilft, ihn in seiner Abwesenheit vor Klischeeäußerungen und Anschuldigungen der anderen verteidigt. Die Rezipierenden kommen jedoch nicht darum herum, Barbaras Aufrichtigkeit anzuzweifeln, schließlich ist sie oftmals selbst nicht vor Klischeeäußerungen über „die Fremden“ gefeit. So pauschalisiert sie beispielsweise: „Es sind Leute wie er, die im Dreck wühlen und die Diamanten ausbuddeln, die wir uns um den Hals hängen“,[7] und schämt sich, „[…] dass bei uns kaum was passiert. Dass ich noch nie überfallen wurde. Oder vergewaltigt. Oder wenigstens ausgeraubt“.[8] Die Vorstellungen von dem Fremden sind auch bei Barbara geprägt vom gesellschaftlichen Diskurs, vom Mediendiskurs. Die Mühe jedoch, die Wahrheit herauszufinden und mehr über Bobo/Klint und seine Heimat zu erfahren, macht sie sich nicht. Zumindest bekommt es das Publikum nicht mit. Es drängt sich der Gedanke auf, ihre Beweggründe dafür, dass sie Bobo/Klint hilft, scheinen nicht ganz uneigennützig zu sein. Die Frage, wie Barbara wohl gehandelt hätte, wäre ihre Beziehung zu Mario intakt und glücklich gewesen, bleibt offen.

 

Schlussüberlegung

Die Äußerungen von Ängsten und Sorgen aus der Perspektive der Figuren müssen noch einmal in Kontrast zu den Unterhaltungen zwischen ihnen betrachtet werden, wie sie vor dem Eintritt von Bobo/Klint in ihr Leben stattgefunden haben.[9] Es ging um Nichtigkeiten, Oberflächlichkeiten, um Materielles wie den Fernseher (Barbaras Geburstagsgeschenk). Es findet nicht so sehr ein Miteinander-Kommunizieren statt, als viel mehr ein Aneinander-Vorbeireden und ein Sich-Voreinander-Profilieren, bevor plötzlich mit dem Auftauchen Bobos/Klints das tiefste Innere eines jeden Einzelnen zum Vorschein kommt. Durch das plötzliche Ereignis der Grenzüberschreitung durch Bobo/Klint gerät das Weltbild von Barbara, Mario, Linda und Paul in eine Schieflage. Sie nutzen „den Fremden“, um in ihrem Denken bereits vorhandene Ängste zum Ausdruck zu bringen: Er fungiert als „unsichtbare Projektionsfläche“. Dadurch, dass er sich nicht äußern und verteidigen darf und kann, da er nicht physisch anwesend ist, wird Bobo/Klint zu „dem Fremden“ schlechthin stigmatisiert. Seine Grenzüberschreitung führt ihn so in ein neues Gefängnis aus klischeehaften Vorurteilen und Rassismen.

Die Grenzüberschreitung Barbaras hingegen, befreit diese – zumindest kurzzeitig – aus ihrem Gefängnis: ihrem Alltag und der Beziehung zu Mario. Da sich die Ängste von Linda, Paul und später vor allem die Verlustängste von Mario im Verlauf der Narration zu potenzieren scheinen, münden sie schließlich in einer Katastrophe: dem Tod von Barbara.

Das Drama zeigt, dass durch Nicht-Miteinander-Kommunizieren Grenzen nicht abgebaut werden. Der Raum des Theaters als sozialer und öffentlicher Raum geht mit der Verantwortung einher, jemandem eine Bühne zur Verfügung zu stellen, während anderen jedoch der Zugang zu dieser Bühne verwehrt wird. In Löhles Stück findet eine bewusste soziale Ein- bzw. Ausgrenzung statt, die spätestens dann besonders deutlich wird, wenn der Zuschauer endgültig merkt, die Figur des Bobo/Klint wird nicht auftreten. Und somit ist es auch eine politisch relevante Frage, „wer in der Gesellschaft die Möglichkeit bekommt, eine Bühne zu betreten, wer Theater machen darf und wer ungefragt lediglich zum Gegenstand des Theaters gemacht wird.“[10]

 

3.10. Teil V: There’s a man going round taking names (Johanna Kaschik)

 

[1] J. M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte. Wilhelm Fink Verlag, München 1993, S. 328.

[2] Ph. Löhle: Wir sind keine Barbaren. Rowohlt Theater Verlag, 2014, S. 17 f.; Hinweis: Aus Gründen der besseren Lesbarkeit sind in dieser Arbeit nur wissenschaftliche Zitate, deren Umfang mehr als drei Zeilen umfasst, eingerückt, nicht aber Zitate aus der Primärliteratur.

[3] Ebd., S. 26.

[4]Ebd., S. 51.

[5] Ebd., S. 48.

[6] Ebd., S. 50.

[7] Ebd., S. 36.

[8] Ebd., S. 41 f.

[9] Siehe Kapitel 1.

[10] B. Wihstutz: Der andere Raum. Politiken sozialer Grenzverhandlungen im Gegenwartstheater. diaphanes, Zürich-Berlin 2012,  S. 116.

Theresa Langwald

› tags: Angst / Besorgte Bürger_innen / Drama / Europa / Flüchtendensituation / Flüchtlingskrise / fremd / Fremdenangst / Gegenwartstheater / Grenzen / Identität / Kultur / Migration / Philipp Löhle / Rassismus / Theater / Wir sind keine Barbaren! /

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