„Wir sind keine Barbaren“, oder doch? – Teil VI: Die Frage nach der Identität Europas: Der Mythos

6. Oktober 2016 - 2016 / Allgemein / bildtext / soziotext

Die Frage nach der Identität Europas ist eine Geschichte über List und Verführung: Der Mythos

Eine umfassende Antwort darauf, wo Europa jetzt steht, würde an dieser Stelle zu weit führen. Der Mythos Europas ist jedoch für unsere heutige Kultur noch immer bedeutend.

 

Europa, eine phönizische Königstochter stammt aus einer friedlichen Kultur. Sie wurde eines Tages entführt: Zeus, beeindruckt von Europas Schönheit, verwandelte sich in einen Stier und lockte sie so von ihren Freundinnen fort und nahm sie mit sich. Europa, so heißt es, ist folglich ein „entführter Teil“ Asiens. Sie ist verloren und schließlich auf sich allein gestellt, über ihren weiteren Verbleib ist nichts bekannt. Kadmos, Europas Bruder, wurde von seinem Vater dem König von Tyros, ausgesandt, um seine Schwester zu finden. Auf seinen Irrfahrten fand er seine Schwester nicht, wohl aber wurde er zum ersten König von Theben und lehrte das spätere Griechisch, was sich als erstes Zeugnis politischer Kultur definiert.[1] Später expandierte diese Kultur: die Kolonien brachten Sprache und Wissen in andere Kulturen. Europa war also ein Kap der Wissensmacht.

Betrachten wir den erläuterten Mythos: Ist das das Schicksal Europas, das sich bis heute fortsetzt? Ein entführtes Geschöpf, das sich notgedrungen um seine Existenz kümmern muss und daher seine Bürger_innen im Laufe der Jahre zu selbstständigen, freien und mündigen Bürger_innen fortlaufend entwickeln wollte? Auch heute ist Europa vor allem noch ein Sehnsuchtsort, für die, die hier leben (denn wir alle haben eine Idee von Europa), aber auch für diejenigen, die nach Europa kommen wollen. Sie alle haben ein bestimmtes Bild von Europa, das in der Realität aber nicht immer so auch umgesetzt ist.

Auch Valéry definiert Europa vor allem über den Mythos, die Dichtung und die kulturellen Errungenschaften und sieht Europa als krankenden Körper – den krankenden Geist – an.[2] Europa hat sich durch den Export der technischen und geistigen Fortschritte expandiert (und hat somit das Wissen zu einer Ware gemacht[3]). Europa ist nicht allein ein explizites geographisches Gebiet, sondern ein „Begriff geistiger Topographie“[4] und die Frage nach dem europäischen Menschen (oder die Frage nach Europa) ist aufgrund der Komplexität und Vielstimmigkeit schwer zu beantworten.

Nach dem Ersten Weltkrieg kam diese geistige Topographie ins Wanken. Auf die schier unendliche intellektuelle und technische Überlegenheit unseres Kontinents, folgte Zerfall und Orientierungslosigkeit. Der moderne Mensch war gescheitert – er befand sich in einer Identitätskrise und fühlte sich zunächst nicht fähig, die Zukunft zu gestalten.[5]

Die Welt schien ergründet zu sein, mit Kunst und Kultur und die Menschen verloren den Blick für das Gemeinwohl und reduzierten ihren Ehrgeiz auf sich allein: „Der zivilisierte Bewohner der riesigen Städte kehrt zurück, das heißt er lebt isoliert, weil der gesellschaftliche Mechanismus ihm erlaubt, die Notwendigkeit der Gemeinschaft zu vergessen und die Zusammengehörigkeitsgefühle absterben zu lassen, die früher unablässig durch die Not geweckt wurden.“[6] Eine Analyse, die gar nicht so weit von Paul, Linda, Mario und Barbara entfernt ist: Die Städter leben isoliert, obwohl sie in einem Haus leben.

Wir Europäer_innen sollten mutiger werden

Betrachtet man schließlich den letzten Akt des Theaterstückes „Neue Nachbarn (II)“ so kommt es den Leser_innen vor, als hätten weder Linda noch Paul etwas aus der Geschichte mit Mario und Barbara gelernt. Blickt man analog dazu auf die Wahlergebnisse der Landtagswahl 2016 in Mecklenburg-Vorpommern oder auf die Pegida-Aktivisten und die Etablierung der rechten Lager in unseren Nachbarstaaten, so kann man vermuten, dass Europa nichts gelernt hat.

„Ein weltweiter Kampf der Kulturen kann nur vermieden werden, wenn die Mächtigen der Welt eine globale Politik akzeptieren und aufrechterhalten, die unterschiedliche kulturelle Wertvorstellungen berücksichtigt.“[7] Diese These des Soziologen Samuel S. Huntington in seinem viel umstrittenen Aufsatz Kampf der Kulturen ist zwanzig Jahre nach seinem Erscheinen aktueller denn je. Es gibt keine universelle Kultur, sondern man muss einen Weg finden, wie sich unterschiedliche Kulturen nebeneinander entwickeln können. Toleranz und Angst stehen sich dabei immer wieder gegenüber. Es muss eine Identität geschaffen werden, die neben anderen bestehen kann, ohne dass sie sich vor anderen kulturellen Identitäten fürchten muss oder furchterregend wirkt.

Wenn man sich nun von der Rollenkonstellation loslöst, könnte man sich fragen, was „Europas Andere“ mit der gesamten Gesellschaft machen, mit unserer Kultur. Medien haben schon seit der Aufklärung einen informierenden und bildenden Auftrag, politische Teilnahme setzte gebildete Bürger voraus, um sie zu mündigen Staatsbürgern zu machen. Heute, im 21. Jahrhundert, wird die Lügenpresse immer wieder angeprangert und die Volksparteien verlieren das Volk. Das Thema Löhles ist also aktueller denn je, der Chor als rufende Masse („(…) hier/ sind WIR/ WIR sind viele/ Kein Platz mehr sonst (…) WIR sind/ Ein Volk/ WIR führen/ WIR führen an (…) WIR uns selbst töten/ Wo vier uns selbst töten/ Wo vier von uns sich selbst töten (…)“[8]) ist nicht so weit entfernt von den Montagsdemonstrationen, die in Dresden momentan immer noch stattfinden.[9]

Die gemeinsame Identität kann in der Kultur repräsentiert werden und daher ist es wichtig, dass sich nicht nur die Medien, sondern auch kulturelle Instanzen wieder in den politischen Diskurs einmischen, wie es Löhle beispielsweise gelungen ist. Dies gelingt auch durch die Unmittelbarkeit, die das Theater mittels der Bühne anstrebt und in diesem Fall ein Problem der aktuellen Debatte brachial sichtbar werden lässt.[10] Auch im Hinblick auf den Theatersommer dieses Jahres ist das Flüchtlings- und Identitätsthema akut vertreten.[11]

Während die Menschheit mächtiger wird, büßt der einzelne Mensch immer mehr Macht ein und fühlt sich mehr und mehr unmündig. Natürlich bedeutet eine tolerante Haltung nicht, dass auch der Toleranz gegenüber Intoleranz zu herrschen droht. Doch diese Grenze, wenn Toleranz zu Intoleranz kippt, ist sehr schmal und nicht immer eindeutig erkennbar. Das verunsichert tolerante Gesellschaften. Die Menschen heute, werden wieder von einem Gefühl bestimmt, das etwas herannahen könnte, das Hoffnungen und Gefahren zugleich birgt.[12]

Doch auf Parolen zu hören ist der falsche Weg, wichtiger wäre es, dass ein stetiger Aufklärungsprozess stattfindet. Dies sagt Löhle nicht direkt, wohl regt es aber zum Nachdenken an, als sich herausstellt, dass Mario seine Gattin ermordet hat. Es entsteht folglich ein Bedarf an noch mehr Information und differenzierten Lösungen, eventuell auch mit Hilfe der Literatur, die Weltkonzeptionen und Themen aufzeigt, die dem postmodernen, gegenwärtigen Menschen helfen, seine kulturelle Identität zumindest teilweise zu finden.

Wir sind die erste Generation, die sich als Gesamteuropäer_innen sehen möchte und wir sollten auch gefestigt genug sein, „Europas Anderen“ durch eine geregelte Integration und eine schlüssige Aufklärung zu helfen und uns dadurch zu einem WIR zu formen. Denn wir sind keine Barbaren, wir sind Europa.

[1] Vgl. ebd., S. 17-19.

[2] Vgl. Valéry, Paul: Krise des Geistes. Drei Essays. Frankfurt a. M.: Insel Verlag 1956, S. 27.

[3] Vgl. ebd., S. 36.

[4] Krippendorff 2009, S. 21.

[5] Vgl. Valéry 1956, S. 32.

[6] Buerger Peter: Was nützt mir all mein Geist? In: Die Zeit. 29/1995.

[7] Huntington 1996, S. 20

[8] Löhle 2014, S. 3f.

[9] Ursprünglich eine Anlehnung an die solidarischen Montagsdemonstrationen zu Zeiten der Mauer. Kurz vor dem Mauerfall trafen sich Bürger aus Ost und West regelmäßig um für eine Einheit Deutschlands einzustehen. Sie riefen „Wir sind das Volk“ (s. S.17). Dieser ursprüngliche Einheits- und Freiheitsgedanke wird mittlerweile für europakritische und nationalstaatliche Propaganda (vor allem) von Pegida genutzt.

[10] Vgl. Dürrenmatt Friedrich: Theaterprobleme. In: Friedrich Dürrenmatt, Theater-Schriften und Reden, hrsg. v. Elisabeth Brock-Sulzer Zürich: Verlag der Arche 1966, S. 98.

[11] Bei den Bad Hersfelder Festspielen wird beispielsweise Arthur Millers „Hexenjagd“ unter der Regie von Intendant Dieter Wedel aufgeführt und im Hinblick auf die Hexenjagd von Pegida neu interpretiert.

[12] Vgl. Derrida 1992, S. 47.

› tags: Angst / Besorgte Bürger_innen / Drama / Europa / Flüchtendensituation / Flüchtlingskrise / fremd / Fremdenangst / Gegenwartstheater / Grenzen / Identität / Kultur / Migration / Philipp Löhle / Rassismus / Theater / Wir sind keine Barbaren! /

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