Zwischen Knackwürstchen, Fako und Verwesungsgestank: Sexualpathologie in Heinz Strunks Der goldene Handschuh (2016)
2. März 2017 - 2017 / Allgemein / texttext
Jetzt will er Rache nehmen dafür und für überhaupt alles, was ihm angetan wurde. […] Er stellt sich vor, eine Frau bei vollem Bewusstsein zu sprengen. Dann schwimmt der Boden im Blut, es bildet sich ein Blutsee.1)Strunk, Heinz: Der goldene Handschuh. Hamburg 42016, S. 190; Im Folgenden zitiert als: DGH
Vor gut einem Jahr bescherte uns Heinz Strunk den schockierenden und gleichzeitig fantastischen Roman Der goldene Handschuh, der von dem Hamburger Serienmörder Fritz Honka handelt. Auf rund 250 Seiten erzählt Strunk von Verwahrlosung, Alkoholexzessen und sexueller Abartigkeit, die letztendlich zu den schrecklichen Verbrechen führten: Fritz Honka ermordete im Zeitraum von 1970-1975 vier Frauen. Er brachte sie auf grausame Weise um und versteckte ihre Leichen teilweise in der Abseite seiner Wohnung.
Sexualpathologie als Diskurs der Moderne
Lustmord, Wollust, krankhafte Störungen des sexuellen Verhaltens – die Sexualpathologie ist schon lange nicht mehr nur wissenschaftliche Disziplin, sondern zentraler Bestandteil von Kriminalliteratur, -filmen und -serien. Als Beispiel für die große Popularität sei das Jahr 2013 genannt, in dem unter anderem die TV-Serien The Fall, Bates Motel und Top of the Lake ihre Erstausstrahlung feierten. Diese und unzählige weitere Beispiele zeigen, dass pathologisches Sexualverhalten noch immer ein Faszinosum darstellt und aus der zeitgenössischen (Mainstream-)Kultur nicht mehr wegzudenken ist. Und das, obwohl die Wurzeln des sexualpathologischen Diskurses bereits mehr als 100 Jahre zurückliegen. Mit der Etablierung der Sexualpathologie als Disziplin am Ende des 19. Jahrhunderts, beginnt auch der Eroberungszug des sexualpathologischen Diskurses in der Kultur der Moderne.2) Böni, Oliver; Johnstone, Japhet: Anders als die Andern. Eine Art Einführung in die Sexualpathologie des frühen 20. Jahrhunderts. In: Crimes of Passion. Repräsentationen der Sexualpathologie im frühen 20. Jahrhundert. Hrsg. von Oliver Böni; Japhet Johnstone. Berlin 2015. S.5-34; hier: S. 5.
Richard von Krafft-Ebing definiert ‚Lustmord‘ in seinem Werk Psychopathia sexualis (1892) als „Wollust, potenziert als Grausamkeit, Mordlust bis zur Antropophagie“, beruhend auf einer „Hyperaesthesia“, einem „krankhaft gesteigerte[n] Geschlechtstrieb“. Lustmord als Extremform des Sadismus, denn „der Mord und das Grauenhafte […] [wecken] Lustgefühle.“
Sexualpathologie in Der goldene Handschuh
Wenn es dunkel wird in Hamburg und normale Menschen schlafen,
schleicht ein finst’rer kleiner Kerl durch die Kneipen nah beim Hafen.3)Harry Horror: Gern hab ich die Frau’n gesägt [1975]
Ganz im Sinne einer Sensationskultur hat sich der sexualpathologische Diskurs als Gegenstand der Massenkultur fest etabliert – je skandalöser und abartiger, desto größer der Medienrummel. Der kausale Zusammenhang von Skandalpotenzial und medialem Interesse lässt sich auch im Fall des Serienmörders Fritz Honka feststellen. Den Boulevardzeitungen wurde seinerzeit vorgeworfen, den Mordfall und mit ihm den entstandenen ‚Hype‘ auszunutzen, um das Sommerloch zu füllen.4) J. Nolte: Betrifft: Honka, Fritz, wegen Mordes, in: http://www.zeit.de/1976/49/betrifft-honka-fritz-wegen-mordes Die Gerichtsverhandlungen genossen ein außergewöhnlich großes Publikumsinteresse und erhielten durch den Staranwalt Rolf Bossi zusätzlichen ‚Glamour‘. Die Schallplattenfirma RCA konnte 1975 dank des Hits Gern hab ich die Frau’n gesägt von einem gewissen Harry Horror steigende Verkaufszahlen verbuchen. Dem Goldenen Handschuh – der Kneipe, in der Fritz Honka seine Opfer kennenlernte – kam die große Aufmerksamkeit ebenfalls zu Gute, entwickelte sich die Bar von da an doch zu einem Publikumsmagnet, der im Volksmund auch ‚Honka-Stube‘ genannt wurde.
Sexuelle Gewalt als Etablierung von Überlegenheit und Macht
Rund 40 Jahre später nutzt Heinz Strunk diesen Kriminalfall als Vorlage für seinen siebten Roman Der goldene Handschuh – und greift damit den Diskurs der Sexualpathologie wieder auf. Die Sujets ‚Sex‘ und ‚Gewalt‘ sind in dem Roman auf das Engste verwoben und werden vornehmlich durch den Protagonisten Fritz Honka und den wohlhabenden Anwalt Karl von Lützow repräsentiert. Obwohl die zwei Erzählstränge nie aufeinandertreffen, wird durch ihren Wechsel die Äquivalenz zwischen der sexuellen Devianz, welche die beiden Figuren verkörpern, verdeutlicht. Gleichzeitig verhindert Strunk auf diese Weise, dass seine Geschichte nicht zu einer Milieustudie wird. Honkas krankhafte Sexualität ist nicht (ausschließlich) Problem des Milieus, sondern Ausdruck einer tiefgreifenden Gier nach Macht und Überlegenheit.
„Die hässliche Frau ist zu sehr viel mehr bereit als die schöne.“5)DGH 57
Sowohl Fritz Honka als auch Karl von Lützow versuchen, durch sexualisierte Gewalt ihre Dominanz gegenüber ihren Partnerinnen auszudrücken, wobei ihr Streben nach einem Gefühl von Überlegenheit bereits in der Auswahl der Frauen erkennbar wird. Obwohl Karl von Lützow bereits über ein „Gefühl natürlicher Überlegenheit“6)DGH 56 verfügt, versucht er dieses durch Sex mit Frauen, die durch „leichte bis mittlere Deformationen, Unebenheiten, Abweichungen, Verschiebungen, Fehler“7)DGH 57 gezeichnet sind, zu bestärken. Bei Fritz Honka hingegen dienen die sexuellen Misshandlungen dazu, überhaupt eine Art von Überlegenheit zu etablieren. Er wendet sich älteren Frauen seines Milieus – rund um die Trinkerkneipe Der Goldene Handschuh – zu, die von starker Verwahrlosung gezeichnet sind und weder einen festen Wohnsitz noch ein (geregeltes) Einkommen haben. Ihnen gegenüber kann er sich souverän fühlen. Die Abhängigkeit dieser ‚Säberalmas‘ verleiht ihm ein Gefühl von Macht und bietet ihm die Möglichkeit, Dominanz auszuüben, denn „[j]eder braucht doch einen anderen Menschen oder ein Tier, das er beherrschen kann“.8)DGH 50
„Hoffentlich denkt Fiete, hat er sich noch ordentlich gequält.“9)DGH 55
Obgleich beide Figuren sadistische Züge in sich tragen, will bei Karl von Lützow kein richtiges Erregungsgefühl aufkommen. Bei einem Treffen mit Frauke – eine Frau, mit der er sich gelegentlich (zum Sex) verabredet – beleidigt, erniedrigt und misshandelt er sie, bricht aber nach einiger Zeit ab. „Er findet das alles hier überhaupt nicht mehr geil“10)DGH 125. Im Gegensatz dazu, empfindet Honka allein durch den Gedanken an die Versklavung Gerdas – sein erstes Opfer – Lust:
„Beim Gedanken an die bevorstehende Versklavung rieseln ihm wohlige Schauer über den Körper. Die totale Versklavung, denkt er, ich bin schlimmer als Adolf Hitler.“11)DGH 46
Die volle Ausprägung sadistischer Neigungen kommt bei Honka aber vor allem in seinen detaillierten Gewalt- und Tötungsfantasien zum Ausdruck:
„Er hat Piepmantschen und D-Böller und Kanonenschläge, die könnte er in ihre Öffnungen stecken, richtiggehend verminen könnte er sie und dann in die Luft sprengen. Damit würde er endlich die Aufmerksamkeit bekommen, die er sich wünscht. Er suhlt sich in seinen Ruhmesfantasien, er träumt davon, berühmter zu sein als Jack the Ripper. An Hitler und Stalin komme ich zwar nicht ran, denkt er, aber die haben ihre Opfer auch nicht gefickt und da halte ich bald den Rekord.“12)DGH 246
Die fingierten Gewaltexzesse verschaffen Honka nicht nur in sexueller Hinsicht einen Lustgewinn, sondern bestärken auch die von ihm ersehnte Machtposition. So dient die sexuelle Devianz, zumindest in seiner Vorstellung, nicht allein der persönlichen Trieberfüllung, sondern auch als Mittel um Bekanntheit und damit soziale Bedeutung zu erlangen – wie einst Jack the Ripper.
Werden Honka die gewünschten sexuellen Handlungen widersagt, stellt das seine Machtposition in Frage. Die Verweigerung der sexuellen Wunscherfüllung führt bei ihm zu Frustration, die in Hass umschlägt und schließlich zur Ermordung seiner Sexualpartnerinnen führt.13)z.B. Anna: DGH 218/19; Ruth: DGH 247/48 Die anschließende Verstümmelung der Frauenleichen geschieht nicht allein aus Platz- und Transportgründen, sondern wird ausgelöst von einer „schrecklichen Wut“14)DGH 220.
Empathie mit einem Serienmörder:
Fritz Honka – Dexters Ahnherr
Die sexuelle Devianz äußert sich in Der goldene Handschuh durch eine enge Verknüpfung von Sex und Gewalt. Beide Aspekte erfüllen im Kontext der Narration die gleiche Funktion: Machtausübung und Etablierung von Überlegenheit. Indem Karl von Lützow und Fritz Honka ihr Sexualleben mit einer Krankheit gleichsetzen, wird der Diskurs der Sexualpathologie – als krankhafte Störung des Sexuallebens – innerhalb des Romans sogar selbst thematisiert:
„Lästig. Sehr lästig sogar. Schon der Gedanke an diese ewig Schmerz und Trauer stiftende Sexualität ist lästig. Sie erscheint ihm [Karl] wie eine Krankheit, ein Infekt.“ 15)DGH 68
„Er [Honka] nimmt das Küchenmesser und säbelt ein wenig an seinen Eiern herum. Am liebsten würde er den kranken Schwanz köpfen, den Kern seiner Verfluchtheit herausschneiden.“ 16)DGH 236
Mit Der goldene Handschuh setzt Heinz Strunk die lange Tradition des sexualpathologischen Diskurses fort. Er widmet sich in aller Ausführlichkeit den Abartigkeiten Fritz Honkas und Karl von Lützows und konfrontiert die Leser*innen immer wieder mit den tiefsten Abgründen menschlicher Sexualität. Doch geht es dabei nicht – wie etwa beim vergangenen Staffelfinale von The Walking Dead (seit 2010) – allein um das Schocken der Rezipierenden. Strunk entscheidet sich bewusst dazu, Fritz Honka nicht nur als Serienmörder zu zeichnen, sondern auch als gescheiterte Persönlichkeit. Besonders deutlich wird dies bei Honkas Versuch, sein Leben in den Griff zu bekommen: Er nimmt einen Job als Nachtwächter an, macht eine Hafenrundfahrt, geht in den Zoo. Vielleicht, denkt man sich als Lesende*r, vielleicht schafft er es ja doch noch – eine falsche Hoffnung. Die versuchte Normalität ist zum Scheitern verurteilt. In dieser Darstellung erinnert Strunks Fritz Honka stark an die US-amerikanische Krimiserie Dexter (2006-2013). Deren Protagonist Dexter Morgan arbeitet als Forensiker in der Blutspurenanalyse des Miami-Metro Police Department und geht in seiner Freizeit seinem großen Hobby nach: dem Morden. Trotz alledem wirkt er dennoch wie ein netter, sympathischer Typ. Er hat eine Freundin, um deren Kinder er sich liebevoll kümmert, pflegt ein enges Verhältnis zu seiner Schwester und ist bei den meisten seiner Kollegen beliebt. Doch auch Dexters Versuche, ein scheinbar normales Leben zu führen, sind nicht mit dem Alltag eines Serienmörders vereinbar – wie bei Fritz Honka.
Heinz Strunk ermöglicht es, eine gewisse Empathie für den Serienmörder Fritz Honka zu entwickeln – ohne dabei eine Rechtfertigung für dessen Morde zu bieten – und damit die eigenen Kategorien moralischen Handelns zu hinterfragen. Der goldene Handschuh ist – wie Ulf Pape es richtig ausdrückt – eine „exzellente Zumutung“17)Ulf Pape: Eine Zumutung – aber eine dringend nötige, in: http://www.spiegel.de/kultur/literatur/der-goldene-handschuh-von-heinz-strunk-ein-ungeheuerlicher-roman-a-1078852.html und führt die Leser*innen immer wieder an die Grenzen des Aushaltbaren, irgendwo zwischen Alkoholexzessen, Mord und einem Ausflug in den Zoo.
Nächste Woche geht es weiter mit Hölle und Gottlosigkeit: Do, 09.03.2017
- Release Maskulin*identität_en - 10. Januar 2018
- Guilty Pleasures: Weihnachtslieder-Edition - 23. Dezember 2017
- August Mackes Modegeschäft (1913): Die Kunst der Flanerie - 30. September 2017
[…] donnerstags – mit einem speziellen Themenkomplex aus Der goldene Handschuh auseinandersetzen: Sexualpathologie, Hölle und Gottlosigkeit und Strunks Motiv der grundlosen […]
[…] auf grausame Weise um und versteckte ihre Leichen teilweise in der Abseite seiner Wohnung. Nach dem Beitrag zur Sexualpathologie von letzter Woche vergleicht der heutige Artikel die Kneipe Goldener Handschuh mit der Hölle und […]
[…] teilweise in der Abseite seiner Wohnung. Nachdem die vorangegangenen Artikel den Roman bereits unter sexualpathologischen Gesichtspunkten betrachtet und als (Vor-)Hölle auf Erden entlarvt haben, soll zum Abschluss der Reihe Strunks Umgang mit den […]