Hölle, Hölle, Hölle! – Heinz Strunks Der goldene Handschuh (2016)
9. März 2017 - 2017 / Allgemein / texttext
Warum muss es überhaupt Menschen geben, die so sind? (…)
Lieber Gott, was haben sie vor ihrer Geburt verbrochen?1)Strunk, Heinz: Der goldene Handschuh. Rowohlt Verlag, Hamburg 2016, S. 5
Eine solche Frage kann vermutlich nicht einmal ein sogenannter Gott beantworten.
Vor gut einem Jahr bescherte uns Heinz Strunk den schockierenden und gleichzeitig fantastischen Roman Der goldene Handschuh, der von dem Hamburger Serienmörder Fritz Honka handelt. Auf rund 250 Seiten erzählt Strunk von Verwahrlosung, Alkoholexzessen und sexueller Abartigkeit, die letztendlich zu den schrecklichen Verbrechen führten: Fritz Honka ermordete im Zeitraum von 1970-1975 vier Frauen. Er brachte sie auf grausame Weise um und versteckte ihre Leichen teilweise in der Abseite seiner Wohnung. Nach dem Beitrag zur Sexualpathologie von letzter Woche vergleicht der heutige Artikel die Kneipe Goldener Handschuh mit der Hölle und fragt sich, wo zur Hölle steckt Gott?
Der Grenzraum „Goldener Handschuh“ als Vorhölle und Hölle
Limbus (lat. für ‚Rand‘, ‚Saum‘, ‚Umgrenzung‘) bezeichnet in der katholischen Theologie zwei Orte am Rande der Hölle (auch als Vorhölle, Vorraum oder äußerster Kreis der Hölle bezeichnet), an dem sich Seelen aufhalten, die ohne eigenes Verschulden vom Himmel ausgeschlossen sind.2)Das behauptet zumindest Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Limbus_(Theologie) .
In den einleitenden Worten von Jürgen Bartsch3)Jürgen Bartsch war ein Serienmörder, der zwischen 1962 und 1966 vier Jungen sexuell quälte und umbrachte., die dem Roman vorangestellt sind, werden solche Seelen ebenfalls erwähnt:
Warum muss es überhaupt Menschen geben, die so sind? […] Lieber Gott, was haben sie vor ihrer Geburt verbrochen? […] Und dann stirbt auch die kleine Seele, die von Schmerzen verkrümmte Seele. […] Sie hat einen aussichtslosen Kampf gekämpft von Anfang an.4)Strunk, Heinz: Der goldene Handschuh. Rowohlt Verlag, Hamburg 2016, S. 5
Auch wenn theologisch gesehen die Vorhölle bereits abgeschafft wurde, so hält sich die Vorstellung daran im Volksglauben doch und zwar vor allem, weil „Höllenvorstellungen in der Gegenwart in außerkirchliche Bereiche ausgewandert sind“5)J. Först: Zur Hölle mit der Hoffnung? Die Entdeckung kirchlicher Praxis und Sozialform als Ressource einer hoffnungsgeleiteten Eschatologie. In: Tübinger Perspektiven zur Pastoraltheologie und Religionspädagogik. Lit Verlag, Berlin 2012, S. 19. und sich Filme, Bücher, Comics – heute auch Computerspiele und Internetauftritte – intensiv damit beschäftigen und unser kulturelles Wissen beeinflussen. Oftmals durchmischen sich dabei religiöse Aspekte mit einer antiken Höllenvorstellung, sodass Halbtote, „Leichen“, „sterbliche Überreste“6)Strunk, Heinz: Der goldene Handschuh. Rowohlt Verlag, Hamburg 2016, S. 16 und Menschen, die aussehen wie Schimmlige – wie es im Handschuh der Fall ist –, durchaus in diese Welt passen.
Der Handschuh ist, wie die Vorhölle, ein Ort, in dem die Seelen, „die ohne eigenes Verschulden vom Himmel ausgeschlossen sind“7)https://de.wikipedia.org/wiki/Limbus_(Theologie) Erlösung und Erfüllung finden – und zwar durch Alkoholismus. Eine kurze Internetrecherche ergibt, dass die Diskurse Alkohol(missbrauch) und Hölle (in einer volksgläubischen Vorstellung) oft zusammengedacht werden. Nach dem Eintritt in den Handschuh ist ein Entkommen nicht mehr möglich, danach kommt nur noch der Tod. Der Handschuh ist demnach eine Art letzte Instanz vor dem Tod. Der Kneipen-Wirt Herbert Nürnberg scheint dabei im übertragenen und umgekehrten Sinne die Funktion von Petrus innezuhaben: nicht als Türsteher des Himmels, sondern als Türsteher der Hölle, „[e]r kann Verrückte, Irre und Wahnsinnige voneinander unterscheiden, einen Schreihals von einem Schläger und einen Dieb von einem Mörder“ (S. 17). Von außen betrachtet scheint das Inventar des Handschuhs eine konturlose Masse aus „Besoffenen und Pennern, […] Blut und Pisse und Schlägereien“8)Strunk, Heinz: Der goldene Handschuh. Rowohlt Verlag, Hamburg 2016, S. 237 zu sein. Doch gehört man zum eingeschworenen Zirkel, erkennt man die verschiedenen Schattierungen und die Hierarchie des Handschuh-Publikums: die erste Zuhälter-Garde9)Sie wird nicht explizit genannt, aber da es eine zweite Zuhälter-Garde gibt, muss es auch eine erste geben., „die zweite Zuhälter-Garde“10)Strunk, Heinz: Der goldene Handschuh. Rowohlt Verlag, Hamburg 2016, S. 21 (zu denen zum Beispiel Fanta-Rolf gehört), die Handschuhler mit Spitznamen erster Klasse („Ritzen-Schorsch, Glatzen-Dieter, Nasen-Erni, Bulgaren-Harry, Doornkaat-Willy“11)Strunk, Heinz: Der goldene Handschuh. Rowohlt Verlag, Hamburg 2016, S. 19 u.a.), die Handschuhler mit Spitznamen zweiter Klasse (z.B. Anus und auch Fiete (Fritz Honka) gehört dazu), dann die „Omas“12)Strunk, Heinz: Der goldene Handschuh. Rowohlt Verlag, Hamburg 2016, S. 25 und „Säberalmas“13)Strunk, Heinz: Der goldene Handschuh. Rowohlt Verlag, Hamburg 2016, S. 27 und an unterster Stelle stehen die Schimmligen, die „heißen nicht nur so, sie sehen auch so aus“14)Strunk, Heinz: Der goldene Handschuh. Rowohlt Verlag, Hamburg 2016, S. 17 f. – soweit die soziale Hierarchie. Die räumliche Struktur sieht nach der Vorhölle Handschuh noch einen weiteren Schritt nach unten vor, nämlich den die Kellertreppen hinunter zu den Toiletten der Kneipe, in denen der „Urin-, Kot- und Kottergestank von tausend Jahren“15)Strunk, Heinz: Der goldene Handschuh. Rowohlt Verlag, Hamburg 2016, S. 237 hängt. Wenn man so will, ist dies nun nach der Vorhölle die Hölle: die Körper lösen sich auf, es herrschen keine Regeln mehr (nicht mal mehr die wenigen, die in der Kneipe selbst noch galten), wenn jemand einen Todeskampf kämpft, dann wird er/sie damit allein gelassen: „Wo ist denn Hildegart? Weg, aufgelöst, im Klo weggespült“, „Nun ist sie also ganz unten angekommen, unter allen Menschen, allen Dingen“, „Ihr Körper lehnt sich noch einmal mit aller Macht gegen das Sterben auf. Dies ist kein Albtraum, dies ist ein Todeskampf“16)Strunk, Heinz: Der goldene Handschuh. Rowohlt Verlag, Hamburg 2016, S. 195 f..
Wo eine Hölle ist, ist auch ein Gott?
Die Hoffnung auf Hoffnung.
Aus der Innenperspektive Fritz Honkas fokalisiert, hat dieser sein eigenes Konzept von Gott. Es gibt in Der Goldene Handschuh keinerlei Anzeichen dafür, dass Honka ein gläubiger Mensch ist. Dennoch scheint er eine Vorstellung von Gott zu haben mit der eine starke Hoffnung auf ein besseres Leben einhergeht („Der liebe Gott wird ihm nach Bauer Geerdes einen neuen Engel schicken“17)Strunk, Heinz: Der goldene Handschuh. Rowohlt Verlag, Hamburg 2016, S. 40. Diese primitive, unreflektierte Gläubigkeit18)„Wieder murmelt er religiöses Zeug, das er irgendwo aufgeschnappt hat“, S. 247 erlaubt Honka ein Konzept von einem barmherzigen Gott, der ihn jederzeit von seinem Elend erlösen könnte. Dieses Konzept ist für Honka notwendig, um überhaupt eine Hoffnung auf Hoffnung zu haben. Als Rezipient_in erkennt man darin jedoch den verzweifelten Versuch Honkas, passiv, ohne Eigeninitiative aus der Situation, in die er hineingeboren wurde, herauszugelangen, den verzweifelten Versuch, sich an unbegründete Hoffnung zu klammern. So beispielsweise an die Hoffnung auf einen Neubeginn, als er seinen neuen Job als Nachtwächter und somit seine Grenzüberschreitung antritt – die allerdings scheitern muss, da an die Hoffnung zu glauben in Heinz Strunks Poetik von vornherein eine falsche Fährte ist.
Um dies zu belegen sticht auch die Textstelle auf Seite 94 ins Auge, in der Gisela von der Heilsarmee im Goldenen Handschuh versucht, die verlorenen Seelen zu retten:
„Jedes Würmlein sticht nach seiner Kraft.“
Agnes nickt.
„Wer mit allen Wassern gewaschen ist, ist noch längst nicht sauber!“
Agnes nickt.
„Tränen können Heilwasser sein.“
Agnes nickt.
„Jedes Jahr fordert Haar.“
Agnes lächelt.
„Auch bei Gegenwind kann man vorwärts kommen.“
Agnes macht ein Geräusch […]
Der ins Leere laufende, von Floskeln nur so überbordende Monolog Giselas gegenüber Agnes könnte ein weiterer Hinweis auf die Sinnlosigkeit sein, die der Autor Gott zuzuschreiben scheint. An dieser Stelle sei auch noch einmal an die anfänglichen Worte von Jürgen Bartsch erinnert und es scheint, ein „Gott“ existiert in Strunks Roman einzig und allein deswegen, um die Sinnlosigkeit des Glaubens an ihn aufzuzeigen.
Nächste Woche geht es weiter mit Heinz Strunks Motiv der grundlosen Hoffnung: Do, 16.03.2017
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