Transsexualität – „Eine Riesenchance für die männliche Vielfalt“
16. Januar 2017 - 2017 / Allgemein / Maskulin*identität_en / soziotext
Es ist ein grauer Samstagnachmittag, auf dem Weg zum Münsteraner Schwulenzentrum KCM am Hawerkamp schlägt mir Regen ins Gesicht und ein mulmiges Gefühl auf den Magen. Mein Ziel: Die Adventsfeier der Selbsthilfegruppe TransIdent, der größten Gruppe für Transsexuelle im Umkreis. So recht weiß ich nicht, was mich erwartet – ungewiss das, was vor mir liegt, unbequem vielleicht auch der Schritt aus der Komfortzone der Heteronormativität und der Alltagswelt, wie ich sie kenne.
Als ich ankomme, ist die Tür verschlossen, das imposante Backsteingebäude des KCM liegt dunkel vor mir. Das mulmige Gefühl bleibt. Habe ich vielleicht aufs falsche Datum gesehen? Bin ich zu früh? Doch ich trotze dem Regen und allmählich bekomme ich Gesellschaft und lerne Nils und Vivian kennen. Dass beide eventuell anderen Geschlechts geboren sind, als nach außen ersichtlich ist, kann ich nur erahnen.
Die Transmänner, Transfrauen, Non-Binaries, Verwandte und Freunde, die sich an diesem Samstag treffen – gemeinsam haben sie eines: Sie fühlen sich ihrem angeborenen, biologischen Geschlecht und dem damit zusammenhängenden Rollenbild in der Gesellschaft nicht zugehörig. Ihr Empfinden, ihr Kopf-Geschlecht, entspricht nicht ihrem biologischen oder aber sie wurden mit Geschlechtsmerkmalen beider Geschlechter geboren, sind intersexuell und wagen nun den äußeren Wandel. Andere möchten sich in das Geschlechter-Schwarz-Weiß gar nicht einordnen lassen, verstehen sich als Non-Binaries. Die empfundene Identifikation mit dem Gegengeschlecht wird als Transsexualität bezeichnet – die oft auch mit einem chirurgischen und/oder hormonellen Übergang zum anderen Geschlecht begleitet wird. So wird aus einer biologischen Frau dann ein Transmann und aus einem biologischen Mann eine Transfrau.
Jemand, der so fühlt, ist sich seiner Möglichkeiten nicht immer bewusst und im Alltag oft mit zahlreichen Problemen konfrontiert. Diesen Menschen versucht die Münsteraner Gruppe TransIdent entgegenzugehen. Einmal im Monat trifft sich hier, wer möchte. Die 1991 gegründete Gruppe, die die einzige gemischt geschlechtliche im Umkreis ist, besteht aus fast 200 Mitgliedern, die aus einem Radius von 100 Kilometern um Münster herum stammen. Ihr Ziel: Erfahrungen austauschen, Gleichgesinnte finden, Probleme, die mit der Identifikation einhergehen, bewältigen, die Geschlechtervielfalt kennenlernen – oder einfach gemeinsam einen Kaffee trinken.
So ungemütlich es draußen war, so festlich und fast andächtig ist es drinnen. Ich sehe Kekse, Weihnachtsdeko und Kerzen – der Raum scheint mit viel Liebe geschmückt. An den Tischen sitzen bereits Jung und Alt. In der Tasche mein, so gewollt, geschlechtsneutrales Wichtel-Geschenk. Dass die kleinen Weihnachtsgeschenke beiden Geschlechtern gefallen sollen, war für mich immer selbstverständlich. Ironischerweise stellt nun das Wort geschlechtsneutral plötzlich eine kleine Herausforderung dar.
Ich werde schnell als „der Neue“ identifiziert, so recht weiß jedoch keiner, wie er mich einzuordnen hat. Bin ich Mann, Frau oder im Prozess dazwischen? Schnell komme ich mit Angelika ins Gespräch. Ihr erkläre ich mein Vorhaben, über die Gruppe zu schreiben. „Es wird in letzter Zeit viel darüber berichtet“, findet sie, „man sollte meinen, es gäbe viel mehr von uns.“ Während sich in Münster einmal im Monat bis zu 40 der 200 Mitglieder treffen, gibt es keine offiziellen Statistiken über Transexualität in Deutschland – die Schätzungen variieren stark im Tausenderbereich. Angelika war einmal ein Mann, hat eine Tochter und kommt seit Jahren her, wie sie mir erzählt. Viele kommen und gehen. Tauchen nur einmal ein und wollen eine schnelle Beratung. „Das finde ich eigentlich schade. Schließlich sind wir eine Selbsthilfegruppe“, erzählt sie mir.
Selbsthilfegruppe, ich muss mir eingestehen, dass mich der schon dieser Begriff eingeschüchtert hat. Hier drinnen wirkt alles jedoch eher wie ein entspanntes Samstagnachmittags-Café. Wer möchte, unterhält sich, wer nicht, bleibt beim Kaffee.
Anfangs ertappe ich mich dabei, das männliche Gesicht im Kleid identifizieren zu wollen, die Frau in der Baggy-Jeans. Je länger ich sitze und mit je mehr Menschen ich ins Gespräch komme, desto verschwommener wird meine Wahrnehmung. Wer jetzt Mann, wer Frau, wer Transmann und wer Transfrau und wer vielleicht gar nichts von beidem ist, scheint nicht mehr so offensichtlich. „Bei uns ist das entspannt. Fragen ist da das einfachste“, beruhigt mich Angelika. „Anderswo kann das aber schnell hochpolitisch werden. Das fängt schon bei den Pronomen an. So fühlt sich vielleicht einer an einem Tag als Mann, an einem anderen als Frau. Oder beides zugleich.“
Beides zugleich, damit meint Angelika diejenigen, die sich Non-Binaries nennen. Diejenigen, deren geschlechtliche Identität jenseits der beiden biologischen Geschlechter liegt. Die sich beispielsweise als androgyn, genderfluid, intergender oder agender bezeichnen würden. Dass die Anrede da schwierig werden kann, erscheint mir fast selbstverständlich.
Wenn ich durch den Raum blicke, sehe ich zumeist deutlich männliche und weibliche Stereotype. Lange Kleider, geschminkte Augen und hohe Schuhe neben Bärten, Baseballkappen und weiten Jeans. Das wirft mich zurück auf meine eigentliche Frage: Welchen Einfluss haben Geschlechterstereotype auf die Identität und warum finden sie sich hier oft überzeichnet? Ich frage Angelika, was für sie Männlichkeit und Weiblichkeit ausmacht, ihre Antwort leuchtet mir ein: „Geschlechterrollen und Stereotype machen wohl für die meisten die Identität aus. Unsere Identität ist doch am Ende nichts anderes als ein gesellschaftliches Echo. Aber es geht darum, als was du dich fühlst. Überleg mal, Robinson Crusoe wäre es egal gewesen, ob er sich schminkt oder nicht. Trotzdem könnte er sich als Frau fühlen“.
Felix, ein bärtiger Mann mittleren Alters und der „heimliche Leiter“ der Gruppe, wie mir Angelika zuschiebt, hat eine andere Erklärung für mich: „Viele müssen erst einmal ihre Pubertät im neuen Selbst nachholen. Dazu gehören dann auch schon mal die Neon-Leggins und die hohen Schuhe. Manche überkompensieren das einfach. In erster Linie will man Mann oder Frau sein – und das im vollen Maße.“
Mann zu sein, das ergeben meine Gespräche, heißt für die meisten die traditionellen gesellschaftlichen Rollen und Stereotype zu erfüllen. Dazu gehören Aggressivität, Stärke und selbstsicheres Verhalten, das Auftreten, und vor allem auch das Äußere. „Die größte Schwierigkeit ist jedoch, dass man als Transmann, eben oft nicht männlich sozialisiert ist“, erklärt mir Felix, den ich aufgrund seines lichten Haares, des Vollbarts und dem präsenten Auftreten nicht im Entferntesten als biologisch feminin eingeschätzt hätte.
Diese Sozialisierungsfrage stelle ich schnell am eigenen Leib fest und merke – diejenigen, die auf mich zukommen, ihre Geschichte teilen wollen, sind in erster Linie Transfrauen; also Frauen, im ehemals männlichen Körper mit männlicher persönlicher Historie, männlicher Sozialisation. „Für sie ist auch der Übergang leichter“, so Felix. Er habe immer noch mit Verhaltensunsicherheiten zu kämpfen. Ihm und anderen Transmännern sei das Männlichkeitsideal, Stärke und Selbstsicherheit, als Echolot und Verhaltensmaß auch bei den Gruppentreffen präsent. So schallt es auch schon mal beim Einräumen der Kaffeeutensilien „Du willst doch ein Mann sein“, wenn es um das Tragen der schweren Kisten geht.
Das bringt mich auf meine Kernfrage: Ist Transidentität nicht eigentlich Gelegenheit mit verrosteten Rollenbildern und Erwartungen aufzuräumen und schließlich eine Chance einfach mensch selbst zu sein?
„Natürlich, das ist eine Riesenchance für die Vielfalt von Männlichkeit. Ich bin ein Mann und schau dir die Dekoration an. Du bist ein Mann und schreibst. Wir müssen zeigen, dass wir mehr sind, als der Stereotyp. Schließlich ist geschlechtliche Identität doch ein Spektrum. Da gibt es kein Schwarz und Weiß. Da ist Vielfalt und die müssen wir nach außen tragen und vermitteln.“
Ich gebe Felix Recht, muss jedoch eingestehen, dass diese Vermittlung gar nicht mal so einfach ist. Der Diskurs ist zwar medial präsent – man blicke auf die Serie Transparent, den Film The Danish Girl oder diverse Dokumentationen – im Alltag der breiten Masse jedoch spielt Transsexualität wenig bis gar keine Rolle. „Dort heißt es Offenheit zu bekennen und das Thema in die Öffentlichkeit zu tragen. Nur so kann man diese Vielfalt kommunizieren“, findet Felix. Zu dieser Vielfalt gehört es auch, das ist vielen besonders wichtig, in der Gesellschaft Transsexualität und geschlechtliche Identität nicht mit sexueller Orientierung zu vermischen, „schließlich sind das zwei verschiedene Paar Schuhe“. So wird der Begriff in der öffentlichen Wahrnehmung und in LGBT- Debatten oftmals zusammengeworfen und „Transsexualität“ mit „Homosexualität“ und „Transvestismus“ verwechselt.
Dass sexuelle Orientierung jedoch auf einem anderen Blatt steht, als geschlechtliche Identität, das betonen Beatrix und Jana. Beatrix, die eigentlich einmal Bernd hieß, steht nach wie vor auf Frauen und identifiziert sich heute als Lesbe. Jana, die mit 18 noch ein Junge war, hat heute einen heterosexuellen Freund.
Kategorisierungen wie die der WHO, die Transsexualität lange Zeit als Persönlichkeits- und Verhaltensstörung einordnete, erschweren und belasten den Alltag von Menschen mit transsexueller Identität in einer heteronormativen Lebenswelt.
So ist es nicht selten, dass trans- und/oder intersexuelle Menschen an Begleiterkrankungen der psychischen Verdrängung wie Depressionen, Borderline, Magersucht, Stottern oder AHDS leiden. Viele sind bereits seit ihrer Kindheit in psychiatrischer Behandlung, ohne dass Transsexualität festgestellt worden ist. Damit geht auch eine astronomische Suizidgefahr einher: Bei einer Umfrage unter amerikanischen Transsexuellen erklärten 41 Prozent der Befragten, sie hätten bereits versucht, sich das Leben zu nehmen.
Währenddessen identifizieren sich immer mehr Transsexuelle mit Gleichgesinnten, die Zahl der Kontaktsuchenden steigt stetig. So wird das Thema auch politisch nicht nur in Deutschland immer relevanter, zogen doch in den letzten Jahren bereits in Kuba, Polen und Venezuela transsexuelle Abgeordnete in die Landesparlamente ein „Gesellschaftliche Akzeptanz und Normalität zeigen sich aber auch juristisch. Hier muss sich akut etwas ändern“, so erklärt es mir Felix. Was Felix meint, ist die Reform des Transsexuellen-Gesetzes zur Namens- und Personenstandsänderung. Das Gesetz, das 1981 in Kraft trat, macht diese Möglichkeit der Vornamensänderung möglich, verlangt allerdings gleichzeitig Gutachten und geschlechtliche Lebensläufe, die diese Änderung rechtfertigen. Damit geht für die Betroffenen nicht nur ein hohe zeitliche Belastung einher, sondern auch ein erheblicher finanzieller und bürokratischer Aufwand.
Dies wollen zahlreiche Transsexuellen-Initiativen wie der Bundesverband *Trans ändern. In der „Waldschlösschen Erklärung“, die von 20 Organisationen aus der ganzen Bundesrepublik unterstützt wird, fordern sie die Vornamens- und Personenstandsänderung auf Antrag – ohne Gutachten und ohne Gerichtsverfahren.
Dass sich an dieser doch verzwickten Situation der Transsexuellen etwas ändert, daran arbeitet seit 2014 in Deutschland eine Interministerielle Arbeitsgruppe. In ihr sind das Innenministerium, das Justiz- und Verbraucher- sowie das Gesundheitsministerium vertreten. Ihr Ziel ist die Verbesserung der Lebenssituation, stärkere Aufklärungsarbeit und eine Vernetzung des Fachwissens. Für 2017 ist von der Gruppe ein Fachaustausch mit dem Titel „Reform oder Aufhebung des sogenannten Transsexuellen Gesetzes? Brauchen wir ein Gesetz zum Schutz des Selbstbestimmungsrechts des Geschlechts?“ geplant. Ob, was und vor allem wann sich dann gesetzlich etwas ändern wird oder kann, steht jedoch noch in den Sternen.
„In erster Linie müssen wir für öffentliches Bewusstsein sorgen, nur so kann gesellschaftliche Akzeptanz der Geschlechtervielfalt erreicht werden. Dazu können schon die Einführung von Unisex-Toiletten ein wichtiger Schritt und ein gesellschaftliches Zeichen sein“, erklärt mir Felix, nachdem wir die Kaffee-Utensilien nach dem Treffen erfolgreich in seinem Auto verstaut haben.
Ungeachtet dessen, ob es zu politischen Veränderungen und gesellschaftlichen Zeichen kommt, wird sich die Gruppe am Hawerkamp weiter treffen, auf sich aufmerksam machen, wo sie kann, und einander den heteronormen Alltag erleichtern.
Als ich nach ganzen fünf Stunden das KCM verlasse, hat sich mein anfängliches Unbehagen zum Thema gelegt. Der Magen ist nicht länger flau, sondern gefüllt mit Kuchen und Kaffee. Eine Welt, die mir vorher etwas fremd war, kann ich nun besser einschätzen und ja, auch verstehen. Die Adventsfeier bei der SHG Transident hat aus dem grauen Dezembertag nicht nur einen gemütlichen Abend werden lassen. Sie hat mir den Blick geschärft, sensibilisiert und den gedanklichen Geschlechterschrank wenn auch nicht aufgelöst, so zumindest um einige Schubladen erweitert.
- Transsexualität – „Eine Riesenchance für die männliche Vielfalt“ - 16. Januar 2017
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