Postfaktizität
4. Dezember 2016 - Allgemein / soziotext / texttext
Postfaktizität, das ist wohl das Wort, in dem Fall das Modewort des Jahres 2016. Unzählige Publikationen greifen den Begriff auf, vor allem als Beschreibung für die Ursache gleich mehrerer politischer Erdrütsche von Brexit bis Donald Trump zu Norbert Hofer. Postfaktizität, das ist der Abschied von den Fakten und die Hinwendung zur gefühlten Wahrheit, die „man ernst nehmen“ müsse. Nun, die Zeit der Symptombeschreibung sollte langsam vorbei sein, wenden wir uns also den Ursachen zu.
Das Problem
- Zunächst lässt sich Postfaktizität auch als Erzählen verstehen: Nämlich als die Erzählung des Individuums, dass die postfaktische Aussage ausspricht. Darin liegt auch eine wichtige Erkenntnis, nämlich, dass die postfaktische Aussage in erster Linie etwas über den/die Sprecher_in aussagt und weniger etwas über die Welt oder das, was die Aussage sagen möchte. Anders gesagt: Die Erzählung des Subjekts ist eine Erzählung auf Basis der eigenen Normen und Werte (bspw. Ablehnung von Andersartigkeit) der Sprecher. Ich stelle mir das wie einen Fleischwolf vor: Oben kommt Weltwissen hinein, wird durch die Kutterscheibe (=Normen und Werte) gedreht, unten kommt Gehacktes, postfaktisches Wissen wieder heraus und lässt sich beliebig formen.
- Erzählen ist eine Tätigkeit, bei der die Erzähler_innen aus ihren eigenen Wissensbeständen Wissen auswählen, anordnen, kombinieren und aussprechen. Damit einher geht natürlich eine Hierarchisierung des Wissens, bspw. in Relevantes und weniger Relevantes, die sich untersuchen lässt. Bspw. ist die christliche Erzählung über die Entstehung der Erde in sieben Tagen nur möglich, wenn ich den Fakt ignoriere, dass es einen Urknall gegen haben soll. Wird der Fakt ignoriert, weiß ich zwar immer noch nicht, wie die Erde entstanden ist, ich weiß aber, dass der/die Sprecher_in Christ_in ist und diese physikalische Evidenz nicht akzeptiert. Gleichwohl kann dieselbe Person das Newtonsche Gesetz für richtig halten.
- Postfaktisches Erzählen ist also nicht nur die Ignoranz gegenüber Fakten, sondern besteht auch in der Kombination und Rekombination von Wissen (oder Hack, wenn man so will…)
Das Problem der Postfaktizität lässt sich also auch als ein Problem des Erzählens und der Auffassung und Anordnung von Zeichen verstehen. Und hier kommt meine Aufgabe als Zeichenleser ins Spiel: Denn eine Erzählung ist nun wirklich etwas, das wir als Literaturwissenschaftler_innen absolut beherrschen können. Den Text, die postfaktische Erzählung, kann ich nämlich untersuchen wie ein Gedicht oder einen Roman.
Die postfaktische Wahrnehmung
Um das Problem der Auffassung von Zeichen näher zu beleuchten eignet sich ein kurzes Gedicht von Conrad Ferdinand Meyer:
Der Marmorknabe
In der Capuletti Vigna graben
Gärtner, finden einen Marmorknaben,
Meister Simon holen sie herbei,
Der entscheide, welcher Gott es sei.
Wie den Fund man dem Gelehrten zeigte,
Der die graue Wimper forschend neigte,
Kniet‘ ein Kind daneben: Julia,
Die den Marmorknaben finden sah.
»Welches ist dein süsser Name, Knabe?
Steig ans Tageslicht aus deinem Grabe!
Eine Fackel trägst du? Bist beschwingt?
Amor bist du, der die Herzen zwingt?«
Meister Simon, streng das Bild betrachtend,
Eines Kindes Worte nicht beachtend,
Spricht: »Er löscht die Fackel. Sie verloht,
Dieser schöne Jüngling ist der Tod.«
Die Kurzinterpretation lautet in etwa folgendermaßen: Gärtner finden bei der Arbeit eine Statue und wissen nicht, um was für eine Statue es sich handelt und holen daher den Gelehrten (Meister=Magister) Simon herbei um die Sache aufzuklären. Den Fund beobachtet hat die junge Julia: Sie hält die Statue für Armor, da er Flügel besitzt und eine Fackel trägt. Der gelehrte Meister Simon dagegen hat ein kleines Detail nicht übersehen: Nämlich dass die Fackel von dem Marmorknaben gelöscht wird, und nicht hochgehalten. Daraus lässt sich nur eine Schlussfolgerung ziehen, nämlich, dass der Knabe nicht Armor ist, sondern der Tod.
Zwei sehr gegensätzliche Wahrnehmungen von Realität von zwei ebenso gegensätzlichen Figuren stehen sich hier entgegen, wobei ihnen jeweils dieselbe Realität zur Verfügung steht: Da ist die junge Julia, die zweifellos Julia Capuletti aus Romeo und Julia ist (erste Zeile!). Von ihr wissen wir, dass sie sterben wird, und zwar nicht zuletzt an ihrer Liebe. Sie sieht den Tod jedoch nicht, sondern nur die Liebe; sie nimmt die gelöschte Fackel nicht wahr; denn – um zum Fleischwolf zurückzukommen – Julia ist ein bald pubertierendes junges „Kind“ und ihre Kutterscheibe zwingt sie beinahe zur freudigen Erwartung der Liebe. Julia lässt sich von ihrem Gefühl leiten („süsser Knabe“): Es ist wenig verwunderlich, dass sie Armor sieht und ihre Fakten dementsprechend formt. Ihre Wahrnehmung des Marmorknaben ist daher eine postfaktische, da sie die Zeichen (die gelöschte Fackel) nicht in ihrer Relevanz, Anordnung und Kombination wahrnimmt und sich ihre Erzählung aus den übrigen Fakten zusammensetzt.
Meister Simon dagegen, von dem wir wissen, dass er alt ist („graue Wimpern“) sieht nicht nur aufgrund seines Alters den Tod, sondern auch, weil er „streng das Bild betrachtend“ die Zeichen richtig lesen kann (Der hegemonial-patriarchalische Aspekt sei hier außen vor gelassen…). Er weiß, dass die gelöschte Fackel ein relevanter Fakt ist, um verstehen zu können, um wen es sich bei der Statue handelt.
Das postfaktische Urteil
Postfaktizität geht aber noch weiter. Denn: Das Problem ist ja nicht nur die Ignoranz von Fakten, sondern auch die Ignoranz evidenter Fakten. Julia Capuletti ist geradezu ein Paradebeispiel. Ganz pragmatisch könnte man ja sagen: Julia, du hast gesehen, die Liebe ist dein Tod, das was du für die Liebe hältst, ist der Tod. Und genau so kommt es dann, sie verliebt sich in Romeo, beide sterben. Hätte sie doch nur auf den Meister gehört! Doch Julia hat ein Urteil über die Relevanz von Zeichen (=die Eigenschaften des Marmorknaben) gefällt: Sie hat sich für ihr Gefühl entschieden, und dabei nicht den fiktionalen Status ihrer postfaktischen Erzählung über die Identität des Marmorknaben erkannt. Sie erhebt ihre Erzählung als die richtige, faktische Erzählung, obwohl sie sich des Fehlers bewusst ist.
Ausweg aus der Postfaktizität?
Wie entkommt man nur der Postfaktizität? Nun, das mag nun meine eigene postfaktische Erzählung sein, aber ich behaupte, dass eine fundierte Textkompetenz ein guter Anfang ist. Es ist notwendig, sich über die Relevanz, Anordnung und Kombination von Zeichen und Zeichenstrukturen Gedanken zu machen um sie richtig verstehen zu können. Schon kleine Details entscheiden über die Richtigkeit der Wahrnehmung und im Falle des Marmorknaben sogar, ob er Liebe oder Tod bedeutet (oder eben beides). Das ist natürlich kein Allheilmittel, denn auch die besten Zeichenleser_innen können Zeichen übersehen, ihre Relevanz falsch einschätzen oder die Anordnung missinterpretieren. Doch die Fehlerquote sinkt enorm, wenn man das richtige Instrument in der Hand hält: Deshalb ist es wichtig, die Mechanik der Sprache, des Aufbaus von Erzählung und ihren Funktionen zu kennenzulernen, auch um ihren ideologischen Gehalt erfassen zu können. Dazu ist auch kein literaturwissenschaftliches Studium nötig, oft reicht schon eine „strenge Betrachtung“.
tl;dr (too long; didn’t read)
In meiner Utopie könnten Alle Texte analysieren und daher eine postfaktische Erzählung von anderen unterscheiden, sie könnten erkennen wie Texte selektieren, anordnen und kombinieren. Die textanalytische Kompetenz hilft auch, die eigenen Erzählungen überprüfen zu können. Die Kenntnis der inneren Struktur einer Erzählung schützt vor der gefühlsmäßigen Vereinnahmung der Erzählung. Hackfleisch spielt dabei keine Rolle.
Literatur:
Michael Titzmann: „Demonstration der Methode: ein Interpretationsbeispiel. Zu C.F. Meyer: Der Marmorknabe“. In: Ders.: Strukturale Textanalyse. Theorie und Praxis der Interpretation, München, 1977, S. 404-445.
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Interessante Gedanken, eine Rückbesinnung darauf, das wir ziemlich wichtige Sachen studieren! So polarisierend und so heikel, dass ich mich mit meiner Meinung nicht zurückhalten kann.
Vor allem das Beispiel mit der Schöpfungserzählung. Dass wissenschaftliche Fakten die Schöpfungserzählung unmöglich macht, ist nur gegeben, wenn man sie gleichzeitig als faktisch annimmt. Nimmt man nicht irgendwelchen religiösen Hardliner sondern vielleicht einfach mal Papst Franziskus als Fallbeispiel, besteht Akzeptanz darüber, dass der Urknall faktisch wahr ist, nicht aber wie der Status dieses Fakts und wie dann wiederum der als wahr (nicht faktisch!) gesetzte Schöpfungsbericht zu denken ist.
Probleme gibt’s es dann aber darin, genau zwischen Fakt und Post-Fakt zu bestimmen. Beispielsweise kann ich nicht von mir behaupten zu wissen, ob die Sonne im Mittelpunkt des Sonnensystems ist, weil ich die Messungen von Planetenbahnen und so noch nie selbst getätigt hab, sondern mich darauf verlasse, dass die Physiker und Meteorologen, die ich nicht kenne, keiner Verschwörungssekte angehören. Gewissermaßen ist das doch auch Postfaktisch, weil eigentlich immer noch ein Meister Simon kommen, und von sich behaupten kann die Position hinter (und über) mir eingenommen zu haben und eine neue Faktizität zu kennen. Faktizität besteht daher nur auf Vertrauensbasis, es sei denn, man befindet sich selbst in einer „Faktenmacherposition“, doch ist man dann auch nur zu einem bestimmten Bereich der ausdifferenzierten Gesellschaft in einer solchen Faktenmacherposition, als Literaturwissenschaftler lässt es sich schwer über das Wahr- und Unwahrheiten unseres Sonnensystem urteilen. So wie wir nicht eigenständig die Faktizität unseres Bio-Joghurts überprüfen können, kann der englische Kleinstadtbürger nicht die Fakten von politischen Diskursen durch Textkenntnis überprüfen, weil der genauen Status jeder einzelnen Aussage auf Vertrauensbasis aufbaut. Julia wird sich immer wieder in Romeo verlieben, weil sie nicht von der Faktizität einer Erzählung eines außen Stehenden überzeugt ist, sondern für sie nichts Wahrer sein kann, als das, was sie in sich fühlt.
Danke erstmal für diese ausführliche und mit Sicherheit auch berechtigte Kritik.
Ich will so darauf antworten: Du sprichst ein epistemologisches Problem an – ich spreche ein politisch-narratologisches Problem an. Was du beschreibst ist ein richtiges und wichtiges Problem, auf das ich in meinem – zugegeben schnell geschriebenen – Artikel gar nicht eingegangen bin. Wenn ich von „Fakten“ spreche, dann gehe ich in der Tat von gesichertem, im Sinne von allgemeinem kulturellen Wissen (Michael Titzmann) aus, dass an sich noch keinen faktualen Status besitzt. Es geht vielmehr darum, was eine Gruppe von Menschen in einem Diskurs für richtig „hält“ und nicht darum, was richtig ist.
Ich wollte mit dem Artikel vor allem ein bisschen darauf eingehen, dass das eigene Narrativ (im Sinne einer Autofiktion) der Narration von Wirklichkeit dient. Goodman sagt dazu: „Die Wahrheit ist keine gestrenge Herrin, sie ist eine gefügige Dienerin“. In diesem Modus des Erzählens gehen Fakten (was auch immer das sein soll) schnell über Bord. Im Bewusstsein, dass es sich um eine Erzählung handelt und als solche in gewisser Weise eine Fiktion ist, lässt sich aber der Postfaktizität besser beikommen, weil sie ihren Kern als „Erzählung von Wirklichkeit“ offenlegt.
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