
Zeit, Phalloi zu zeichnen – Essay und Gedicht
14. November 2016 - 2016 / Allgemein / Maskulin*identität_en
Titelfoto: © Kulturproleten
Es muss kurz nach der Jahrhundertwende gewesen sein, ganz zu Beginn des ersten Jahrzehnts des Einundzwanzigsten Jahrhunderts, als zum ersten Mal ein Sitznachbar dem Dichter in sein niederrheinisches Provinzschulheft männliche Geschlechtsteile zeichnete. Hoden, Schaft und Eichel in der erwartbar guerillahaften Schnelligkeit hingeworfen, die für ein erfolgreiches Verunstalten fremder Arbeitsmaterialien unabdingbar ist, in einem einzigen entschlossenen Füllerstrich; beim Ausbleiben der Gegenwehr allerdings, als unvorhergesehenerweise die einzige Reaktion ein frühpubertär dümmlich-fasziniertes Grinsen blieb, widmete sich der Künstler mit nun beinahe zärtlicher Sorgfalt der Ausgestaltung des Schamhaars, das er alsbald aus der anatomischen Mimesis entließ, sodass es sich arabeskenartig über den gesamten weißen Heftrand kringelte.
Ein terroristischer Akt, ohne Frage, deshalb in seiner Unbekämpftheit so merkwürdig, da die Lehrer_innen die pädagogisch prähistorische Tradition fortführten, gelegentlich Hefte auf ihre Ordentlichkeit hin zu überprüfen und das Ergebnis in die Gesamtnote am Halbjahresende einfließen zu lassen, vor allem in den Nebenfächern (und es ist wahrscheinlich, auch wenn das nicht mit endgültiger Sicherheit gesagt werden kann, dass sich die Sache in einer Physik- oder Chemie- oder Erdkunde- oder so -stunde zutrug, da es üblicherweise die Ausführungen des entsprechenden Lehrpersonals waren, die sich kreativitätsfördernd auf die Schüler_innen auswirkten). Sicher, die Zeichnung würde in einer fünfminütigen Hausaufgabenprokrastination am Nachmittag den Weg aller buddhistischen Mandalas gehen, doch der zu Hilfe genommene Tintenkiller wäre, wie immer, ganz am Ende seiner Lebensdauer angelangt und könnte daher nur eine bedingte Löschung bewirken. Den zurückbleibenden Fleck müsste der oder die penible Physik- oder Chemie- oder Erdkundelehrer_in unweigerlich monieren, zumal der Mitschüler so tief ins Papier geritzt hatte, dass gegebenenfalls die skandalöse Form zu erkennen geblieben wäre.
Dennoch ließ der Dichter den Freund gewähren, ein Stoß, ein kurzes Gerangel, ein irritierter Blick vom Pult her, vielleicht ein ermahnendes Wort – und es wäre vorüber gewesen, der Moment verstrichen, alles Kommende nie geschehen. War es eine prophetische Intuition, die notorisch divinatorische Sensibilität der Poeten? Ein plötzlicher Flash, der ihm Einblick gewährte in die Zusammenhänge der Welt und des Lebens, in den potentiellen Initialcharakter dieses Augenblicks? Jedenfalls tat er zunächst nichts, sondern plante, insgeheim: den Vergeltungsschlag.
Er wartete ein, zwei Tage, eine Woche vielleicht, passte die Gelegenheit ab. Irgendwann neigte sich der arglose Künstlerfreund zum anderseitigen Sitznachbarn herüber, flüsterte ihm etwas zu, ließ die Flanke unbewacht. Der Dichter greift zum Tintenkiller, zieht die blaue Kappe ab – so kann es der andere nicht löschen –, beugt sich über das unbefleckte fremde Heft und zeichnet einen wunderschönen großen behaarten blauen Phallus.
Seitdem malten sie Phalloi, ständig, überall: In Schulhefte weiterhin (selbstredend), außerdem in Freundschaftsbücher, auf Geburtstagskarten, beschlagene Fensterscheiben, verschneite Autos, auf die Gesichter rauschausschlafender Freunde, die Verwegeneren unter ihnen auf Wände und Schultische, sie mähten sie in die Wiesen der elterlichen Gärten, belegten Pizzen so, fanden in irgendeinem Geschäft eine Spiegeleierpenisbratform, einer brachte aus Amsterdam einen einschlägig geformten Porzellanpfefferstreuer als Souvenir mit usw., [insert your story here]. Sie fanden Adepten – und Adeptinnen, denn es war keine rein maskuline Obsession: Mochte alles auch mit zwei Jungs begonnen haben, so war es doch eine Mitschülerin, die zuallererst zum schwer abwaschbaren Edding griff, um ihre Kunst aus den Heften herauszuholen und auf die Unterarme zu bringen.
Sie lernten bald, dass es sich um eine globale, epochenübergreifende Bewegung handelte, ob im hollywoodianischen Teenyfilm (Superbad) oder in der römischen Twenty-Something-Webserie (The Pills), die doch letztlich nur den Priapos-Kult ihrer antiken Vorfahren fortführte, so die damals in der Clique konsensfähige These zur kulturellen Kontinuität, induziert durch die Italienstudienfahrt mit ihren archäologischen Ausgrabungsstätten- und Museumsbesichtigungen und dem Rotwein danach. Na gut, das mit dem Rotwein ist Italienklischee: Sie tranken dort natürlich eigentlich Bier und irgendwelche klebrigen Mischgetränke.
Als sie dann gedankenverloren auf dem Programmfaltblättchen das vertraute Motiv vor sich hinkritzelten, während der Gymnasialdirektor bei der feierlichen Abiturzeugnisvergabe irgendetwas von verantwortungsvollen Mitgliedern der Gesellschaft daherblubberte, überkam sie die wehmütige Ahnung, dass es das gewesen sein, da er Recht behalten könnte.
Jahre später. Der Dichter, jetzt Masterstudent in den ersten Semestern, saß in einem Seminar, dessen Diskussion in ihm ein ähnlich gedankenabdrifterisches Momentum freisetzte wie dereinst die Chemiephysikerdkundestunde. Plötzlich war er da, dieser nostalgische Impuls, nach langer, langer Zeit wieder einmal einen zu zeichnen. Aber so ein spontaner, straightforward emphatischer Phallus ging natürlich nicht mehr. Man müsste ihn mehrfach ironisch bis postironisch brechen, die Brüche schienen und auf den Gips ein leicht geknicktes Exemplar in dick implizierten Anführungszeichen malen. Eher noch ihm eine kurze Kulturgeschichte zur Seite stellen, mehrbändig, von Priapos bis Superbad, mindestens, um all die alles andere als stumpfen oder unterkomplexen, wenngleich ohne Frage oft problematischen, aber eben in ihre Zeit einzuordnenden, kritisch einzuordnenden, da doch zumindest ambi-, nein: poly!-valenten, widersprüchlichen Maskulinitäts- oder Virilitätskonzepte, -traditionen, -diskurse, mit denen eine so simple Zeichnung ganz unweigerlich aufgeladen sein muss, einmal zu explizieren. Das eben, was sonst in diesem abgeklärt wissenden Lächeln oder Lachen (je nach Alkoholpegel) unausgesprochen blieb, mit dem man sich im neuen Freundeskreis gegenseitig von der adoleszenten Leidenschaft erzählte.
Andererseits: Stünde das, fragte sich der Dichter, nicht allzu sehr im Widerspruch zum antiintellektualistischen Impetus des Augenblicks? Abgesehen davon wäre es viel zu anstrengend. Also tat er, was man nun einmal so tut, wenn man keinen Bock hat, zu explizieren, aber zu sehr Snob ist, um einfach einen Penis zu malen; wenn man nur ein bisschen teasen und anderen das ausformulierte Anschlussdenken überlassen möchte: Er schrieb ein Gedicht.
Zeit, Phalloi zu zeichnen
Es ist Zeit, Phalloi zu zeichnen:
Rede rotiert routiniert rational im Raum.
Irreführenderweise wichtig wirkend.
Deshalb: Rede im Kopf reduzieren.
Und zeichnen.
Phalloi.
Testikolare Haare daran,
darunter, darum.
Darin infantile Imbezillie zu wähnen,
zeugt von Ratiophilie.
Denn, wie sich festhalten lässt,
ist es bloß Manifest
immer noch phallozentrischer Kosmographie.
- Zeit, Phalloi zu zeichnen – Essay und Gedicht - 14. November 2016
[…] Ginnuttis widmet sich schlussendlich der Repräsentation des Penisschemas im öffentlichen Raum – seien sie auf Wände gesprayt, in Hörsaalbänke geritzt oder in Schulhefte gemalt – und […]