Ausstellungsplakat „Homosexualität_en“ (2016): Zwischen Werbung und Kulturauftrag – Dritter Einblick in ‚Ein Heft‘

17. August 2016 - 2016 / Allgemein / bildtext / soziotext

Titelfoto: © Kulturproleten

Passend zu Hannah Zipfels Beitrag Von fleischgewordenen Unterstrichen und spektakulären Körpern in der vergangenen Woche, präsentieren wir mit Norma L. Werbecks Essay eine zweite Blickrichtung auf das Ausstellungsplakat der Homosexualität_en-Ausstellung. Norma ist wissenschaftliche Volontärin am LWL-Museum für Kunst und Kultur in Münster und Mitherausgeberin von Ein Heft – eine Kooperation des LWL-Museums und des Masterstudiengangs Kulturpoetik der Literatur und Medien. In ihrem Beitrag widmet sie sich der Bedeutung des Mediums ‚Plakat‘ und beleuchtet damit dessen ‚in-between‘-Sein zwischen Werbung und Kulturvermittlung.

Hannah Zipfel und Norma L. Werbeck beim Release von 'Ein Heft' im LWL: Homage to Benglis

Hannah Zipfel und Norma L. Werbeck beim Release von ‚Ein Heft‘ im LWL: Homage to Benglis (© Kulturproleten)

Norma L. Werbeck

Beim Blick auf das Homosexualität_en-Plakat sieht der*die Betrachter*in eine Person im Zentrum, deren Geschlecht sich nicht eindeutig als männlich oder weiblich einordnen lässt. Körperbau und Muskulatur entsprechen männlichen Bodybuilder-Stereotypen. Weibliche Merkmale dagegen sind Busen und rot geschminkter Mund. Körper und Mimik wirken blass und angestrengt und stehen im Kontrast zu der Hochglanzästhetik, die an Werbeplakate erinnert. Der Schriftzug mit Titel, Ort und Zeitraum der Ausstellung ist auf dem Körper platziert, projiziert und reduziert. Der Ausstellungstitel wird im Bild auf zwei Ebenen dargestellt: Das Wort „HOMO“ klemmt sich wie ein Joch zwischen die Schulterblätter der abgelichteten Person. Weiter unten … ein nackter Busen … ein Sixpack … dann der zweite Teil des Titels: „SEXUA-LITÄT_EN“ – erst ein ganzes Stück weiter unten, auf Höhe der Taille.

Ein Plakat dient der Verbreitung einer Information im öffentlichen Raum und dessen Macher*innen stehen vor der Herausforderung, auf der eingeschränkten Fläche eines Plakatbogens eine schnell zu erfassende Botschaft zu vermitteln. Es kann Aufmerksamkeit erregen und auch Irritationen schaffen oder Neugierde wecken. Von seiner Wirkung hängt der Erfolg ab. Bild und Slogan stehen in Beziehung zueinander und übertragen gemeinsam Botschaften. Man denke etwa an aktuelle Werbekampagnen. So versucht die Tabakfirma Marlboro mit dem Slogan „You decide“ auf ihrem Markenlogo, Charakterstärke zu suggerieren. All diejenigen werden angesprochen, die selbstbestimmt durchs Leben gehen wollen, selbst entscheiden möchten, was gut für sie ist, ganz egal, was die anderen sagen. Und auch die Bundeswehr macht mit dem Plakatmotiv „Was sind schon 1.000 Freunde im Netz gegen einen Kameraden“ ihrer Kampagne „Mach, was wirklich zählt.“ auf sich aufmerksam und versucht damit, an bestimmte Werte und Charaktereigenschaften zu appellieren.
Eine positive Reaktion der Betrachter*innen im Fall des vorliegenden Ausstellungsplakats könnte möglicherweise lauten: „Ich bin neugierig und möchte mehr erfahren“ oder „Ich fühle mich angesprochen und möchte exklusive Exponate (m)einer Com-munity sehen.“

Das Homosexualität_en-Plakat könnte auch als Spiegel funktionieren, der Akzeptanz und Einstellung zum Thema Geschlecht und sexuelle Orientierung reflektiert. Die Summe der einzelnen Meinungen könnte so einen Eindruck davon vermitteln, wie unsere Gesellschaft den Themen der Ausstellung gegenübersteht, ob sie Diversität als Chance erlebt oder ob sie diskriminierende Züge kultiviert. Auch wenn es eine immer weitreichendere Gleichstellung per Gesetz gibt, ist diese aber oftmals nicht deckungsgleich mit der gesellschaftlichen Akzeptanz. Ein zentrales Gesetz ist hier zum Beispiel das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG), dessen Ziel es ist, „Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen“.
Wie der einzelne Mensch das Plakat interpretiert, hängt nicht nur von dem Bild selbst ab, sondern auch vom Standpunkt der Betrachter*innen, davon, wie der einzelne Mensch geprägt und sozialisiert ist.

Um einen Eindruck zu bekommen, wie das Plakat wirkt, habe ich es Bekannten und Freunden gezeigt und sie nach ihrem ersten Gedanken zum Begriff ,Homo‘ gefragt. Zwei Aussagen waren besonders häufig: Homo = lateinisch für Mensch und Homo = Abkürzung für einen schwulen Mann. Insgesamt habe ich 13 Personen gefragt, da-von hatten sieben die Assoziation Mensch und fünf die Assoziation schwuler Mann. Einmal lautete die Antwort: „Kommt darauf an, in welchem Kontext ich das Wort ,Homo‘ lese.“ Hier und da hatte ich eine andere Antwort der Befragten erwartet und wurde mit meinem eigenen Schubladendenken konfrontiert. Befragungen mit we-sentlich größeren Stichproben als nur 13 Personen sind eine Methode der Statistik. Sie sind ein wichtiges Messinstrument, um den Denkstil (Theorie) eines Denkkollek-tivs (Wissenschaftlergruppe) zu überprüfen, da, nach Ansicht etwa des Erkenntnis-theoretikers Ludwik Fleck, Denkkollektive selbst historischem und sozialem Wandel unterliegen.

Ausstellungsplakat Homosexualität_en im LWL.

Ausstellungsplakat Homosexualität_en im LWL. (© Kulturproleten)


Das Homosexualität_en-Plakat zeigt ein Kunstwerk von und mit Cassils. Das Foto entstammt einer Bildreihe aus dem Kunstprojekt CUTS: A Traditional Sculpture, in dem Cassils die Veränderungen des eigenen Körpers dokumentiert. Durch Diät, Krafttraining und die Einnahme von Steroiden nahm Cassils in 23 Wochen 23 Pfund an Muskelmasse zu und näherte sich damit dem stereotypischen Körper eines Bodybuilder-Mannes an. Das Projekt ging der Frage nach, wie Betrachter*innen Geschlecht wahrnehmen und wo die Grenzen zwischen männlichen und weiblichen Geschlechtsmerkmalen liegen. Manche Rezipient*innen könnten bei dem Titel Homo-sexualität_en vielleicht einen sexuellen Fetisch der Künstler*in vermuten. Cassils geht es in seinen*ihren Arbeiten jedoch vorrangig um Geschlecht, weniger um sexuelle Orientierung. Das Essay „Cassils: Advertisment: Hommage to Benglis, part of the larger body of work CUTS: A Traditional Sculpture, a six month durational per-formance (2011)“ von Hannah Zipfel liefert in der vorliegenden Publikation [‚Ein Heft‘] eine spannende Auseinandersetzung mit Cassils’ Kunst.

Ich frage mich, ob die Plakatierung des Homosexualität_en-Plakats, abgesehen von dem Werbezweck, auch einen kulturellen Mehrwert darstellen könnte? Schließlich hat ein öffentliches Museum nicht zuletzt auch einen Kulturauftrag, der zwar nicht zu den Pflichtaufgaben, aber dennoch zu den freien Leistungen staatlicher Kulturinstitutionen zählt. Der Deutsche Museumsbund sieht neben dem Sammeln, Bewahren und Forschen auch das Vermitteln von Kultur als zentrale Aufgabe von Museen. Es gibt unterschiedliche Lesarten davon, was Kultur eigentlich ist und beinhaltet und wie der Begriff Kultur ausgelegt werden kann. Eine wichtige Rolle für die Bedeutungsinterpretation von Kultur spielt unter anderem die UNESCO-Weltkonferenz über Kulturpolitik, die 1982 in Mexico-City stattfand und eine anthropologische und ethnologische Auffassung von Kultur etabliert hat. In der Erklärung von Mexico-City über Kulturpolitik, die von allen 129 teilnehmenden Mitgliedstaaten einstimmig angenommen wurde, heißt es, dass die Kultur „als die Gesamtheit der unverwechselbaren geistigen, materiellen, intellektuellen und emotionalen Eigenschaften angesehen werden kann, die eine Gesellschaft oder eine soziale Gruppe kennzeichnen“. Diese Gesamtheit zum Beispiel durch ein Plakat zu kommunizieren, könnte als eine konkrete Umsetzung der Kulturvermittlung interpretiert werden.

So vielfältig wie die Betrachter*innen, so vielfältig können auch die Reaktionen auf ein Plakat ausfallen. Erst durch die Sichtbarkeit eines Themas kann ich über die Reaktionen darauf erfahren, wie meine Mitmenschen denken und mich auch selbst po-sitionieren, indem ich Argumenten zustimme oder sie ablehne.
Vor dem Hintergrund personifizierter Werbe- und Marketingstrategien im Internet er-scheint ein Plakat fast schon als ein Anachronismus, da durch digitale Angebote Interessengruppen heutzutage viel gezielter adressiert werden können. Wenn aber mit digitalen Plattformen Zielgruppen weitaus einfacher und genauer verortet und erreicht werden können, worin liegt dann der Nutzen eines Plakates? Was vermag ein Plakat mitten in der Stadt, was andere Medien nicht können? Die Antwort könnte etwa lauten: Es ist ein Medium, das ganz unterschiedlichen Menschen im öffentlichen Raum, zum Beispiel auf der Straße, begegnet und sie so zum Nachdenken anregen kann.

Gut platzierte Plakate sind eine Gegenbewegung zur personalisierten Werbung. Sie sind besonders wirksam an öffentlichen Knotenpunkten, an denen Menschen aufeinandertreffen, die sonst nicht zusammenfinden würden. Dies können gerade Orte des öffentlichen Lebens sein, wie zum Beispiel Marktplätze, Rathäuser oder Bahnhöfe. Orte, die zum Gespräch wie auch zu Misstönen und Irritationen einladen, zur Auseinandersetzung über die Eigenarten, Gewohnheiten und Überzeugungen einer Gesellschaft. Genau das könnte aus der Perspektive der kulturellen Bildung die Stärke von Plakatierung ausmachen. Im Plakat liegt die Möglichkeit, einen vielfältigen sozialen Diskurs anzustoßen, an dem Menschen unterschiedlicher Herkunft und mit verschiedenen Interessen im öffentlichen Raum teilnehmen können. Im konkreten Fall könnte das bedeuten, sich mit dem Thema ,Gender‘ auseinanderzusetzen und es neu zu verhandeln, sich zu positionieren, ein Ethos zu manifestieren und sich vom Pathos zu lösen.

› tags: Ausstellungsplakat / Ein Heft / gender equality / Homosexualität / Homosexualität_en / Kulturkritik / LWL-Museum für Kunst und Kultur / Plakat / Rollenbilder / Schönheit / Werbung /

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