Von silberglänzenden (Unter-)Hosen und unfreiwilligem Voyeurismus – Erster Einblick in ‚Ein Heft‘

28. Juli 2016 - 2016 / Allgemein / bildtext / soziotext

Titelfoto: © Kulturproleten

Das LWL-Museum für Kunst und Kultur ergreift Initiative: Im Zuge der Ausstellung Homosexualität_en, die dort von Mai bis September 2016 gastiert, rückt ein gesellschaftlich oft marginalisiert verhandelter Diskurs in den Mittelpunkt einer etablierten Münsteraner Institution. Der Rahmen wird genutzt, um über die Ausstellung der Exponate hinaus, Kommunikations- und Reflexionsimpulse anzubieten.
Ein solcher Impuls geht aus einer Kooperation des LWL-Museums mit dem Masterstudiengang Kulturpoetik der Literatur und Medien hervor und erschien nun in der Gestalt von
Ein Heft. Dieses Format, von dem bereits weitere Ausgaben in Planung sind, ist kein herkömmlicher Ausstellungskatalog, in welchem eine Institution ihre Ausstellung in Informationen rahmt. In Ein Heft werden in essayistischer Form einzelne Exponate mit einem intuitiven und assoziativen, oft persönlichem und durchaus auch wissenschaftlich fundierten Blick betrachtet. Oder wie es in Ein Heft heißt: “Nicht zu verkopft, verknüpft sich das Wissen aus den Institutionen dabei mit den Erfahrungsschätzen aus Pfadfinderlager, Magazinredaktion oder Konzertbühne zu neuen Denkanstößen”, Impulsen eben, das Ausgestellte über den Musealen Raum hinaus zu verstehen und zu verhandeln.

Wir freuen uns, dass Anna Seidel, eine der Mitherausgeber_innen der ersten Ausgabe von Ein Heft, uns ihren Beitrag über die Go-Go Dancing Platform von Elaine Sturtevant (1995) für eine erste Online-Veröffentlichung zur Verfügung gestellt hat.

Ein_Heft_Stapel

Stapel von ‚Ein Heft‘ im LWL-Museumsshop (© Kulturproleten)

Anna Seidel

Elaine Sturtevant: Gonzales-Torres Untitled (Go-Go Dancing Platform) (1995)

Die Go-Go Dancing Platform, im Original von dem kubanischen Künstler Félix Gonzáles-Torres (1991), hier in der Kopie der US-amerikanischen Künstlerin Elaine Sturtevant (1995), ist schön anzusehen: Das quadratische Podest steht frei im Raum, wir können es an allen Seiten umschreiten und betrachten. Es ist merkwürdig leer. Ist das eine Einladung? Dancing, go! Go? An den Rändern der Plattform reihen sich Glühbirnen aneinander, die an Varietébühnen oder die Garderobenspiegel von Diven aus einer anderen Zeit erinnern. Irgendwie scheinen sie eine Grenze zu ziehen zwischen uns und dem Podest. Den entscheidenden Schritt rauf tun wir also nicht. So weit, so gut, so unspektakulär? Spektakulär wird die Go-Go Dancing Platform, sobald ein Tänzer das Podest betritt und es zur vielleicht kleinsten Tanzfläche der Welt macht. Eigentlich müsste man vielmehr von einer Bühne sprechen. Auf Tanzflächen ist man selten allein, das Tanzen wird zum gemeinschaftlichen Akt, die Tänzer_innen stimmen ihre Bewegungen auf die Musik und aufeinander ab. Auf der Go-Go Dancing Platform aber bewegt sich der Tänzer ganz allein und noch dazu ziemlich exponiert. Die Plattform wird zum zentralen Ort einer Performance und die eben noch passiven Glühbirnen, die von der Privatheit des Garderobenspiegels erzählten, werden, die Aufmerksamkeit in ihrer Mitte bündelnd, zu Scheinwerfern. Und aus uns, die wir bis eben noch Betrachter_innen eines Gegenstands waren, wird nun das Publikum des Tänzers. Das ist besonders, ein unwiederbringliches, gemeinschaftliches Ereignis. Die Körper der Zuschauer_innen und der Körper des Tänzers sind zur selben Zeit im selben Raum und reagieren aufeinander. Interessierte Blicke, verschämtes Wegschauen, selbstverlorenes Tänzeln, betontes Anmachen – alles scheint einander zu bedingen. Fehlt der Tänzer, hat das Podest eine ganz andere Qualität. Das Gleiche gilt aber auch für das fehlende Publikum. Eins ist dabei klar: Selbst wenn der Tänzer in zwei Stunden oder übermorgen das Podest wieder betritt, der einzigartige Moment lässt sich nicht wiederholen. Die Go-Go Dancing Platform spielt mit Abwesenheit und Anwesenheit und irgendwie auch mit uns. Ist sie leer, regt sie unsere Fantasie an, betritt der Tänzer das Podest, wird das nur kurze Spektakel zu einem flirty Spiel.

Anna lesend neben der Go-Go Dancing Platform beim Release
von ‚Ein Heft‘ im LWL am 5. Juli (© Kulturproleten)

Was hier passiert, unterscheidet sich ziemlich deutlich vom klassischen Go-go-Tanz, der eher selten in Ausstellungen, vielmehr in Bars oder Clubs stattfindet. Eigentlich sollen Go-go-Tänzer_innen die Umstehenden animieren und ihnen entweder Lust machen, selbst zu tanzen oder sie zumindest dazu motivieren, ein bisschen Geld in der Location (oder dem Strumpfband) zu lassen. Und hier? Die flirtenden Blicke und die freien, bisweilen aufreizenden Bewegungen des Tänzers stehen in Kontrast zur Ausstellungsumgebung. Andere Kunstwerke in direkter Nachbarschaft der Plattform erzählen von Diskriminierungen und davon, dass Körper und sexuelles Begehren nicht überall so leger zur Schau gestellt werden können wie hier und jetzt auf diesem Podest.

Der Tänzer bewegt sich zu Musik, die nur er selbst hört. Über einen Kopfhörer, der an einen Walkman oder an einen MP3-Player angeschlossen ist, spielt die Musik nur für ihn. Was genau? Vielleicht „Dancing on my own“ von Robyn oder Stereo Totals „Wir tanzen im Viereck“ – wer weiß das schon? Und das irritiert ja schon ein wenig. Tanzt er da überhaupt für uns? Oder tanzt er nur für sich? Nur wenige wissen, dass Sony den Walkman ursprünglich mit zwei Audio-Ausgängen versehen hatte zum partnerschaftlichen Hören. Dafür hat sich bloß niemand interessiert – die Nutzer_innen wollten ihre Musik lieber allein genießen in Bussen und Bahnen und auf Rollschuhen. Das ist auch bei heutigen Abspielgeräten nichts anderes. Meistens jedenfalls. Manchmal werden ja doch auch die Lautsprecher bemüht. Hier aber nicht, hier hört nur der Tänzer die Musik und wandelt sie mit seinem Körper in Moves um, die uns nur noch erahnen lassen, wie schnell und wie wummernd die Musik wohl ist. Wäre das hier eine Silent Disco, würden wir es ihm gleichtun, uns die Kopfhörer aufsetzen, und zwar zu unserer eigenen Musik, aber eben doch mittanzen. Aber irgendwie ist das hier anders gedacht. Oder?

Der Tänzer steht im Fokus. Er wirkt, mit seinem prototypisch-männlichen Körper, wie eine klassische, sich bewegende Skulptur. Bekleidet nur mit ein paar Socken, Sneakers und einer knappen, silberglänzenden (Unter-)Hose bleibt nicht viel verborgen vom trainierten Tänzerbody, der ja noch dazu von allen Seiten betrachtet werden kann. Ein gewisser Exhibitionismus, die Tendenz zur Rampensau kann da schon unterstellt werden. Gleichzeitig werden wir zu Voyeur_innen. Die Beziehung zwischen uns scheint klar zu sein: Wir, als das bekleidete Publikum, können ihn, den halbnackten Tänzer, nach Lust und Laune betrachten, wir checken seinen Körper und seine Bewegungen ab. Aber ist es so einfach? Schließlich ist er es, der uns hier in diesem Moment fesselt, der das Podest aufleben lässt und interessanter macht, als es der bloße Gegenstand je gewesen wäre. Unser Blick auf den Tänzerkörper jedenfalls wird uns über das ja in gewisser Weise spiegelnde Material der Hose zurückgespielt. Von der Hose können wir aber kaum den Blick abwenden, so auffällig ist sie. Das hat dieses Setting dann wieder gemeinsam mit den Diven, an deren Garderobenspiegel wir denken: Auf der Bühne braucht es ein auffälliges, aufregendes Outfit – auch oder gerade dann, wenn die Bühne sehr klein ist.

Während wir in unserem Alltag häufig auf (halb-)nackte, normschöne Frauenkörper stoßen, die anmachen sollen – auf Werbeplakaten, Partyflyern und in Musikvideos zum Beispiel –, ist es ungewohnt, öffentlich einen männlichen, sexualisierten Körper zu erleben. Eine seltene Gelegenheit dazu bietet vielleicht die Coca-Cola-light-Werbung. Da soll der sich das T-Shirt ausziehende Mann dem Werbesetting entsprechend vor allem Frauen ansprechen und ein Produkt bewerben. Der hier kaum bekleidete Männerkörper auf der Go-Go Dancing Platform tanzt nicht in erster Linie für die Ladies. Viele der Kunstwerke von Félix Gonzáles-Torres verhandeln homosexuelles, vor allem schwules Begehren und thematisieren in diesem Zusammenhang die Spannung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit. So auch die Go-Go Dancing Platform. Es handelt sich um ein Objekt, das in jeder Sekunde, ob es gerade betanzt wird oder nicht, zwischen Anwesenheit, Offenheit und Extrovertiertheit auf der einen und Abwesenheit, Zurückgezogenheit und Distanz auf der anderen Seite changiert. Auch dann, wenn es sich, wie in diesem Fall, um die Aneignung des Kunstwerkes durch eine Frau handelt.

Anna Seidel

› tags: Ein Heft / Elaine Sturtevant / Go-Go Dancing Platform / Homosexualität / Homosexualität_en / Kunst / LWL-Museum für Kunst und Kultur /

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