Aufgabe von Kunst heute und sonst – Grit Lemkes „Kinder von Hoy“

8. November 2021 - 2021 / soziotext / texttext

Allein literaturkritisch entsprechend der gängigen Empfehlungspraxis qua Inhalt und ein bisschen Form wäre Grit Lemkes literarisierte Kollektivbiographie Kinder von Hoy. Freiheit, Glück und Terror (Suhrkamp, 2021) schnell abgetippt: Sie ist unbedingt lesenswert. Die Differenzierung der deutschen Einheitserzählung von der Deutschen-Einheits-Erzählung ist so notwendig wie eingängig. Sie erzählt von den Kontinuitäten der verwalteten Welt und von den Brüchen innerhalb der DDR, vom Matriarchat der Plattenbauviertel, von Hoffnungen auf eine nie eingelöste Zukunft und bekannten, ganz eigenen Generationenkonflikten zwischen den Kriegs-, den DDR- und den Nachwendegenerationen. Und ganz nebenbei von Heiner Müller als Couchsurfer. Das alles in souveräner kulturpoetischer Konstellation einer Polyphonie von O-Tönen, Erinnerungen, literarisierter Biographieschreibung, Anekdoten, Dokumenten, usw. usf., die weder die Erzählung das Material beschneiden lässt noch das mannigfaltige Material erzählungslos-dokumentarisch zusammenfügt, auf dass sich jeder selbst reinwühle.

Was wäre mehr zu sagen? Dass uns hier etwas anderes interessiert. Hoy, das ist Hoyerswerda in Ostsachsen bei Bautzen. Hoy ist Planstadt wie Eisenhüttenstadt oder Wolfsburg, nur mit Braunkohle als Ursache, die ab den 1950er Jahren für eine Turbovergesellschaftung zur Fast-Schon-Großstadt sorgt. Aus mythisch nebulöser, abenteuerlich-kolonistischer Vorzeit wird in wenigen Jahren, kaum Jahrzehnten eine Gesellschaft als soziales Miteinander errichtet, erzwungen, erarbeitet, deren Lebenswelt vor allem Arbeitswelt ist. Und, wie in allen Gesellschaften immer, entsteht mit der Vergesellschaftung: Kunst, Kulturproduktion. Und ebenso anthropologisch-konstant geht, was da geschaffen wurde, wieder ein, verändert sich substanziell, inklusive sämtlicher Entwicklungsschritte zwischen Konjunktur, Normalisierung, Differenzierung, Konsolidierung und Krise.

Hoyerswerda zeigt sich uns als raumzeitlich endliches Modell einer Gesellschaft, eines repräsentativen Gesellschaftsausschnitts und -durchschnitts, der in die soziale Petrischale und diese an die Peripherie der Weltgeschichte gesetzt wird, um dort sich selbst überlassen zu gedeihen und zu verderben. Lemke richtet in den Kindern von Hoy das Mikroskop auf den Bereich der Kulturproduktion dieses Experiments. Ihre empirischen Ergebnisse lassen sich lesen als Beschreibungen des Verhältnisses von Kunst und Gesellschaft zu-, unter-, miteinander. Sie lassen sich interpretieren als Hinweise darauf, welche Möglichkeiten und Aufgaben Kunst in diesem Verhältnis zukommt.

Wir lesen also: Von kollektiver Erfahrung, kollektiver Identität einer Generation, die behaupten kann: „Die Geschichte beginnt mit uns.“ „Wir heißen alle Thorsten. […] Niemand hat seinen Namen nur für sich. Hier wird alles geteilt“ – und geteilt wird ebenso das Unverständnis für die Sehnsucht der Eltern aus der mythischen Vorzeit nach Ruhe, Ordnung, Sauberkeit, Sicherheit, die oft in nur allzu bereitwillige Selbstverharmlosung im herausgekehrten Desinteresse an allem anderen umschlägt. Geteilt wird ebenso die Erfahrung der mitunter hypochondrischen, meistens allergischen Reaktionen des einheitsparteilichen Kulturmanagements.

Es gilt: Wer sich in der Reinkultur der Arbeitswelt dieser Stadt die Kultur erhalten will, muss sie selbst machen – Do-It-Yourself als Einsicht in die Notwendigkeit, die hier auch bedeutet, das Alltägliche kunstfähig zu machen, es zu nehmen, wie es sich darbietet und anfangs auch noch, es besser zu machen. Es gilt für die Kunstproduktion im Kollektiv das Motto: „Mit der ganzen politischen Bildung, das ist ja alles gut und schön, aber wir müssen das unterhaltend rüberbringen.“ Was so entsteht, schimmert heute als Vorschein einer höchstens in kleinsten Teilen abgegoltenen Zukunft in der Vergangenheit. Und ist schnell vorbei. Es scheint bequemer, es scheint besonderer, irgendwie dagegen zu sein, ganz und gar nicht mitzumachen, wenigstens im eigenen Bereich der selbstbestimmten Kunstproduktion. Der bequemste Weg dabei ist der offensichtliche der herausgekehrten Opposition qua aus der Anderwelt hinter den Grenzen importierten Mode, Musik und Habitus. Ganz beiläufig werden dabei auch die Verantwortlichkeiten des sogenannten Kulturmanagements jeder Gesellschaft, der Distribuenten der Kulturprodukte und Dispatcher ihrer Produktionsbedingungen und Produzierenden, erkenntlich.

Die Produktionssphäre verlagert sich, in den Keller, hinter verschlossene Türen, in selbstgeschaffene Heterotopien. Probleme der Außenwelt betreffen einen nicht mehr und werden damit irrelevant. Von der Kunst als unterhaltender Bildung bleibt nur die Unterhaltung, die die aufklärerische Aufforderung zum Selbstdenken nur versucht, wenn sie auf die Absurdität allen Seins führt; die die Anregung zum Handeln nur vorsieht, wenn die Handlung Spaß macht, nicht Arbeit ist und ausschließlich in einem nur absagenden Bezug zur Welt rings um die Heterotopien steht. Meistens wird diese Außenwelt aber, konkret und metaphorisch, ganz ausgesperrt. Der Gesellschaft ist man nur in ihrer Negation verbunden und entdeckt sich fürderhin gegen die eigene, vermeintlich neue, im Selbstanspruch: subversive Auffassung von Kunst und Leben nur affirmative Vorbilder: „So muss es sich angefühlt haben, Paris, Dreißigerjahre, très bien.“ Das emphatische Nacherleben von Kunstgeschichte erfolgt über die naheliegenden Stationen: revoltierender Expressionismus, sinnverweigernder Dadaismus, selbstreferentieller Dekonstruktivismus. Die Selbstbilder der Protagonist*Innen sind dann mitunter gar nicht mehr weit von den Zeitgenossen in Berlin (W) entfernt, wie sie Sven Regeners Szenemottenkiste entspringen: „Da ham’wa uns ja gegenseitig immer heiß gemacht, dass auf keenen Fall `ne Aussage drinne sein darf!“

Der Rückzug in den eigenen Raum ist unumkehrbar, er ist keiner, um Kraft und Ideen zu sammeln für einen Ausbruch. Er ist der Abbruch aller Verbindung nach außen, Ladenschluss – ohne Ausverkauf. Die falsche Auffassung, mit Kulturproduktion ja doch nichts tun zu können – am Beispiel Gerhard Gundermanns wird das Gegenbeispiel durchaus möglicher Wirksamkeit von Kunst auf Gesellschaft aufgeführt –, keinen Einfluss nehmen zu können, das Gefühl der Machtlosigkeit wird verbrämt als theoretischer Standpunkt: Kunst müsse eben gar nichts, dürfe nichts wollen, könne es ja auch gar nicht. Aus dem Versuch, das Gefühl der kulturproduktiven Machtlosigkeit zu entschuldigen entsteht so tatsächlich machtlose Kunst, die sich vollkommen von der sie umgebenden Wirklichkeit entfremdet hat. „Auf der Suche nach einem Bild der Realität, das anders war als das, was man uns vorsetzte“, gerät aus dem Blick, dass das Vorsetzen und Vorsetzen-Lassen selbst zu ändern ist, nicht die vorgesetzten Bilder.

Dem rassistischen Pogrom, dem Ausbruch der – nicht nur potenziell tödlichen – Gewalt im und dem Kippen des gesamten Gesellschaftsmodells in eine neue Ordnung samt neu ordnendem Narrativ stehen die großen Kinder Hoys ratlos, mit leeren Händen und ohne Ideen, wie man handlungsfähig werden könnte, gegenüber. Selbst, um rein bestandsaufnehmend zu reagieren, kommen sie zu spät aus den Kellern, „[w]ir hatten die Tür zugemacht, um den Tumult von nebenan nicht hören zu müssen.“ Ihr neues Motto am Ende, welches dem des hoffnungsvollen Anfangs diametral entgegengesetzt ist, lautet nurmehr: „Die Avantgarde ergibt sich, aber sie stirbt nicht.“ Sie vegetiert in den ihr zugestandenen Habitaten, bis diese ihr von der vermeintlichen Außen- aber sie vielmehr umgebenden, einschließenden Lebenswelt, von den in dieser je Hegemonialen gewaltsam entzogen werden. Die Probleme, an denen man vorher zumindest oberflächlich kratzte, sind bestehen geblieben. Sie wurden auch von anderen nicht gelöst, nicht entschärft. Sie explodieren. Einmal Andersartigkeit beansprucht zu haben, ist die längste Zeit folgenlos geblieben: Man entsinnt und enthirnt sich in der neuen deutschen Einheit, bis hin zur Beanspruchung der vermeintlich Linken vonseiten der Neonazis, welche die gemeinsame Provenienz „aus `ner Einheitsfront gegen den alten Staat“ ableiten. Wer also nicht mit körperlicher Gewalt gleichgeschaltet oder vertrieben wird, wird es durch ideologische Annexion. Mit der Folge, dass man sich zukünftig tunlichst hütet, überhaupt irgendeine Position zu beziehen. Das vor sich selbst verteidigte Postulat der künstlerischen Folgenlosigkeit – an ihren Eltern sollt ihr sie erkennen – schlägt in geläuterte Folgsamkeit fatalistischer Akzeptanz unheilig um.

So notwendig und heilsam die Sicherheit des heterotopischen Orts von Zeit zu Zeit sein mag: Der Jazzkeller als topologischer Ort für das aggressiv behauptete Recht auf Sinnlosigkeit, Selbstbezüglichkeit, Weltferne ist Akzidenz, nicht Essenz kulturproduktiver Existenz. So besonders sich seine Bewohner*Innen auch fühlen oder machen – sie bleiben doch Teil einer Gesellschaft, einer außerkünstlerischen Wirklichkeit, auf die kein Bezug genommen werden muss, freilich, wobei jedoch auch nicht vergessen werden kann, dass man sich nicht unbedingt für die Außenwelt interessieren muss, damit sie sich vielleicht doch einmal für einen selbst interessiert.

Das ist nichts Neues. Diese Erkenntnis steht hinter der simplen und wirksamen Wahrheit, die Peter Weiss in der Ästhetik des Widerstands mitteilen lässt, und die das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft seit ihrem Anbeginn pointiert:

Herakles aber zog Linos, dem Lehrer, der seinem Schüler weismachen wollte, die einzige Freiheit, die es gäbe, sei die Freiheit der Kunst, den Hut so hart über die Augen, daß ihm das Nasenbein brach, und als der Magister weiterhin behauptete, die Kunst sei zu allen Zeiten unabhängig von den jeweiligen Wirrnissen zu genießen, steckte er ihn kopfüber in die Jauchegrube und ertränkte ihn, zum Beweis, daß waffenlose Schöngeistigkeit einfachster Gewalt nicht standhalten kann.[1]

Dagegen-Sein ist gut für den Anfang. Aber nur oberflächliche Besonderung muss nicht heißen, gegen etwas einzustehen oder einstehen zu können. Und das bloße Dagegensein heißt noch lange nicht Subversion – das übliche Missverständnis von „Alle waren im Widerstand.“ Opposition ohne Begriff und Ziel bleibt Lifestyle ohne Handhabe des Opponierenden gegen das Opponierte. Erst das handlungsfähig machen (Theorie!), erst das handeln selbst (Praxis!) machen bloße Opposition zur Subversion. Zu zeigen was es gibt, was falsch läuft, wie man das besser machen könnte, wie man das Besser-machen machen könnte, das Machbare herauszustellen und es zu tun, sei es nur in effigie – ist auch Aufgabe von Kunst, heute und sonst, wenn sie ihrer Bedeutung und Verantwortung in ihrem gesellschaftlichen Rahmen gerecht werden will. Dazu gehört Schlagfertigkeit und bisweilen Zuschlagfertigkeit. Die Kinder von Hoy sehen es vielleicht selbst nicht ein, sie teilen uns aber trotzdem mit, das alle nachhaltig gesellschaftlich relevante Kunst Resultat von kollektiver Arbeit ist, die immer das Außen mitdenken muss, seine haltbaren Elemente herausstellt, seine untragbaren und unerträglichen zu verändern sucht, indem sie der schlecht konstituierten Wirklichkeit ein ihr anderes gegenüberstellen kann. Mithin zeigt, wie es ein bisschen richtiger im Falschen zugehen könnte und sollte, indem sie der einen Gewalt eine ganz andere entgegenstellt.

Nebenbei werden Form und Inhalt so als sekundäre Kategorien erkenntlich. Stattdessen rücken die durch sie vermittelten, vermittelbaren, wahrgenommenen und wahrnehmbaren Aussagen, Ideen und Ideologien, ihr Gesellschaftsbezug in den Fokus kritischer Relevanz. Das wären die Grundlagen nicht nur gesellschaftlich relevanter Kulturproduktion, sondern gleichsam ein erster Fundus an Überlegungen und Maßstäben für eine neu konstituierte Kritik von Kulturprodukten gleich welcher Medialität, die sich nicht mit Hype, Selbstinszenierung, Geschmackssubjektivismus – mag er noch so klingend formuliert sein – und der daraus resultierenden Ohnmacht des Feuilletonismus unterm Strich abfinden will und lässt. Die schlag- und zuschlagfertig bleibt und sich selbst als Kunst nach den von ihr erwarteten Qualitäten begreift, der von ihr erwarteten Verantwortlichkeit selbst gerecht wird. Die – der ‚Verriss‘ ist überholt, war es schon immer – bei allem Verzweifeln über dem Grauen aus der kritischen Negation des Gegebenen „den Begriff von einer verschiedenen Farbe, deren versprengte Spur im negativen Ganzen“ nicht und nie fehlt, produktiv macht, dabei ihr „Bewußtsein der Negativität“, das „die Möglichkeit des Besseren festhält“[2] je Preis zu geben.

Hier sind wir weit weg von Hoyerswerda früher. Hier sind wir mittendrin und heute. Subversion durch Kulturproduktion ist hier immer noch notwendig. Und sie passiert:

Du musst die Dinge selber in die Hand nehmen. An Orten, die so’ne depressive Ausstrahlung haben – da muss man seinen Blick schärfen. Und dann sieht man diejenigen, die dagegenhalten. Die wird es immer geben.

Die Kulturprodukte, die aus dieser anderen, bewussten Dagegen-Haltung mit Prinzipien und Zielen abseits des Selbstzwecks entstehen, haben Gehalt in ihrer ganz eigenen Gegen-Gewaltsamkeit. Es ist auch das ein Lehrsatz aus der Gesellschaft und Welt im Modell.

[1] Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstands. Roman. Hg. u. mit einem editorischen Nachw. v. Jürgen Schutte. Berlin: Suhrkamp 2016, S. 25.

[2] Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003, S. 26 [=Gesammelte Schriften 4], zuvor ders.: Negative Dialektik. In: Ders.: Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1973, S. 7-412, hier S. 370. [= Gesammelte Schriften 6]

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