Zeitgenössische Influencer-Ästhetik und kapitalistische Glücksökonomie – Randts Allegro Pastell
4. Oktober 2021 - 2021 / soziotext / texttext
Pop 3.0: Überaffirmation als Lebenskonzept – und als vielleicht doch kritische Schreibstrategie? In seinem Gastbeitrag zum Museum der Popmoderne gibt Marco Thunig am Beispiel von Leif Randts Allegro Pastell (2020) einen Einblick in die problematischen Implikationen, die ein solches Leben und seine Abschrift zeitigen, wenn man sie ohne Konzession an die Akademie-Ästhetik der Schreibschule Malibu liest.
Es ist grundsätzlich zu hinterfragen, was die vielfach gestellte Diagnose Generationenportrait überhaupt zu bedeuten hat und ob die Idee des Millennials – und was ihn im Innersten zusammenhält – nicht vielmehr ein (erfolgreiches) Marketingkonzept verkörpert denn eine belastbare Charakterisierung verheißt. Allegro Pastell, mannigfaltig gerühmt, treibt dieses Konzept auf die Spitze und veranschaulicht mit lauwarmer Heftigkeit, wie abgehoben sich das Motiv Millennial gebärdet, spätestens wenn es durch die Behauptung einer realweltlichen Diegese spaziert und sein Authentizitätsversprechen auf die Spitze treibt. Ein Untertitel von Allegro Pastell könnte lauten: Wenn Instagram-Profile Menschen wären.
Die interne Fokalisierung auf die Hauptfiguren Tanja und Jerome führt im Verbund mit ihrer notorischen Selbstbezogenheit dazu, dass eine Einbettung des Geschehens in gesamtgesellschaftliche Strukturen allenfalls nur dann stattfindet, wenn es darum geht, sich vorhergehenden Generationen und dem Lebenswandel Gleichaltriger gegenüber zu positionieren. Sozioökonomische Zusammenhänge spielen für die Romanhandlung augenscheinlich keine Rolle.
Das ist auf zweierlei Weise bezeichnend. Einerseits entspricht die Abstinenz ökonomischer Konflikte passgenau dem Lebenswandel der Figuren und ihrem sozialen Umfeld. Andererseits suggeriert der Roman, auch über seine Hauptfiguren hinaus, eine finanziell abgesicherte Wohlstandsgesellschaft, in der Armut, schlechte Löhne oder Überarbeitung grundsätzlich keine Bedeutung erfahren. Der dadurch gebotene Raum der annähernd-uneingeschränkten Selbstverwirklichung stellt die Figuren immer wieder vor die Frage, ob und wie sie ihn eigentlich nutzen sollen.
Die Figuren sind sowohl Kund*innen als auch Verkäufer*innen einer Selbstoptimierungsideologie, dessen genaue Ausrichtung sie immer wieder neu verhandeln oder – anders ausgedrückt – nicht festlegen können. Das Überangebot an möglicherweise lukrativen Lebensentwürfen mündet in Passivität und einen Nachfragemangel hinsichtlich jedweder Form von verbindlicher Lebensgestaltung. Die Figuren können und haben alles, wollen aber nichts Dauerhaftes. Folgerichtig haben sie sich nur wenig zu beklagen. Dieses Phänomen entspricht strukturell (und vermutlich auch in der Sache) dem Spätkapitalismus[1]; bloß, dass der damit einhergehende Überfluss im Roman weniger als materielle Überproduktion denn vielmehr als überwältigendes Angebot von Lebensentwürfen auftritt. Es mutet fast komisch an, dass selbst das Ende des Romans, in seiner vordergründigen Rührseligkeit, ein Offenes bleibt. Offenbar kann weder das anzustrebende Ideal (eine glückliche Beziehung zwischen Jerome und Tanja) noch das zu Vermeidende (in Form einer Absage an die Beziehung) zementiert werden. Der betont vorläufige Ausweg aus diesem Dilemma ist ein Schwebezustand, der alle Angebote offenhält, um ihre Vielfalt auch fortwährend zu gewährleisten. In dieser Welt, in der Optionen gleichbedeutend mit finanziellem Wohlstand sind (wären die Figuren arm, stünden ganz andere Fragen zur Debatte), ist eine Reduktion der Möglichkeiten mit Abstiegsangst konnotiert. Immerhin könnte sich eine persönliche Festlegung als unglücklich erweisen, verlustreich sein und etwaiger Auswege ermangeln. Dieser Abstiegsangst steht eine Diversifizierung des potenziellen Glücksvermögens entgegen.
Die vorgeführte Ökonomie des persönlichen Glücks ist eine Kapitalistische – zumal sie mit dem Versprechen einhergeht, eingesparte Möglichkeiten wären ein Investment in die Zukunft, das zur potenziellen Wertschöpfung weiterer Optionen gereicht.[2] Dieser Logik folgend, zog Jerome nie nach Berlin und während er sich gleichzeitig nie hätte ausmalen können, eines Tages das Haus seiner Eltern zu übernehmen, fiel es ihm letztlich zu; gleichfalls die Beziehung zu Marlene, die ob ihrer Unverbindlichkeit sympathisch erscheint, und das (natürlich) ungeplante Kind. Dass sich am Ende für Jerome dann doch die Gründung einer Familie einstellt, ist aus ideologiekritischer Sicht verdächtig.[3] Allerdings ist es nur folgerichtig, dass bar jeder Verbindlichkeit schlussendlich ein konservativer Lebensstil steht, der die gebotenen Ereignisse und Strukturen annimmt. In der Verweigerung läge schließlich bereits eine Entscheidung.
Die Sprache des Romans verhält sich, analog dazu, wie eine Collage aus Markennamen, den Namen von Personen des öffentlichen Lebens und stilisiertem Internetsprech in der Figurenrede. Dieser saftige Stil gebärdet sich in einer Selbstverständlichkeit, wie sie den Influencern eigen ist.[4] Der Roman lässt keine Gelegenheit aus, die Befindlichkeit und Meinung seiner beiden Hauptfiguren zum Ausdruck zu bringen. Sachverhalte müssen kategorisch kommentiert und beurteilt werden; etwa, wenn es heißt: „Jerome gefiel die Vorstellung, dass“, „Tanja vertrat die These, dass“, „im Nachhinein fand Tanja es positiv, dass“. Die Figuren stehen, parallel zum Erzählstil, in einem auktorialen Verhältnis zu sich selbst.[5] Die daraus resultierende Like-Button-Prosa koaliert mit einer Perspektivierung, die von einem Product-Placement zum nächsten schwingt, über leckeres Essen, explizite Geldsummen, bis hin zu spontanen Reisen ins Ausland, die natürlich der Allgemeinheit mitgeteilt werden müssen; einschließlich des Punktabzugs fürs schlechte Wetter, demgegenüber sich der einheimische Uber-Fahrer zu rechtfertigen hat.[6] Es wäre wenig verwunderlich, würden Tanja und Jerome für ihren zur Schau gestellten Konsum satte Werbeeinnahmen kassieren.
Tanja kann sich auf der einen Seite bereits als Person des öffentlichen Lebens inszenieren und genießt explizit Einfluss auf die Lebensentwürfe anderer Menschen.[7] Jerome, auf der anderen Seite, designt mit großem Erfolg Websites. Digitalisierung und Personenkult harmonieren miteinander – sie führen zusammen, was Influencer, Stand 2020, ausmacht. Da überrascht es kaum, dass der Sex prinzipiell wenigstens gut ist, keine körperlichen Gebrechen (es sei denn, sie wurden mit eingeplant) in Erscheinung treten und latenter Drogenkonsum dazu taugt, die flotten Ups und Downs der täglichen Gefühlsbörse mit kalkuliertem Hedonismus in die gewünschten Bahnen zu lenken. Es wird sich gegönnt – auch weil man es kann. Die Vorlieben der beiden Hauptfiguren spiegeln, dass sich diverse Aufputschmittel wie Kokain und MDMA dafür besser eignen als Downer und weniger berechenbare Psychedelika. Selbst das konsumierte Marihuana wirkt atypisch belebend.[8]
Jeromes einziger politischer Vorschlag besteht in der unfreiwillig hohnvollen Idee, Menschen die Möglichkeit zu bieten, verschiedene Berufe auszuprobieren. Dass manche Berufe, die in der Sache attraktiv erscheinen, schlecht entlohnt werden oder systemrelevant und gleichzeitig unangenehm sind, scheint er nicht mitzubedenken. Anders ausgedrückt: Die Figuren leben das pure Individuum, getreu dem Motto „There is no such thing as society“[9].Ein vermeintlich unpolitisches Liebäugeln mit der CDU-Regierung[10] und eine grundsätzlich liberale, verbraucherfreundliche Haltung der Welt gegenüber, die sich nur auf Sicherheitsabstand zur Linken verhält (die einzige explizit linksgerichtete Person des Romans ist bezeichnenderweise depressiv und wird gemieden[11]) komplettiert das Bild einer neoliberalen High Society, in der nichts muss, immer alles kann, und soziale Missstände nicht nur heruntergespielt, sondern schnurstracks ignoriert werden.
[1]Vgl. Staab, Philipp: Digitaler Kapitalismus. Markt und Herrschaft in der Ökonomie der Unknappheit, Berlin: Suhrkamp 2019. S. 220.
[2]Vgl. Zeise, Lucas: Finanzkapital. Köln: PapyRossa 2020. S. 19 ff.
[3]Vgl. Kracauer, Siegfried: Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino (1928). In: Das Ornament der Masse. Hrsg. Von Siegfried Kracauer. Berlin: Suhrkamp 2017 [1963]. S. 279.
[4]Vgl. Schmitt, Wolfgang M./Nymoen, Ole: Influencer. Die Ideologie der Werbekörper. 3. Auflage. Berlin: Suhrkamp 2021. S. 50 ff.
[5] Vgl.Schneider, Wolfgang: Statusmeldungen der Befindlichkeit. https://www.deutschlandfunkkultur.de/leif-randt-allegro-pastell-statusmeldungen-der.1270.de.html?dram:article_id=471894 (12.06.2021).
[6]Vgl. Randt, Leif: Allegro Pastell. 6. Auflage. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2020. S. 197.
[7]Vgl. ebd. S. 67 f.
[8] Vgl. ebd. S. 239.
[9]Vgl. Keay, Douglas: Interview for Woman’s Own. No such thing as society (1987). https://www.margaretthatcher.org/document/106689 (12.06.2021).
[10]Vgl. Randt, Leif: Allegro Pastell. S. 221 f.
[11]Vgl. ebd. S. 222.
Schreibe einen Kommentar