
Die sogenannte DDR – Brussigs Wenderomane
2. August 2021 - 2021 / soziotext / texttext
Sommerzeit, Reisezeit. Ziel ist eine lichte Stelle auf der literarischen Landkarte unseres kleinen Gebiets. Vom das Jahrzehnt der neuen Popliteraten einleitenden historischen Moment, in dem aus zwei deutschen Staaten einer wurde oder seiner Vorgeschichte haben wir bisher nur wenig gehört. Und das interessiert naturgemäß. Thomas Brussigs Romane Helden wie wir (1995), der lang erwartete popliterarische Wenderoman, und Am kürzeren Ende der Sonnenallee (1999) versuchten, diese Nische und einige Wissens- und Erinnerungslücken zu füllen, mit eigenwilligen Charakteren und auf noch eigenwilligere Art. Sommerzeit, Lektüretipp-Zeit. Heute: ein expliziter Anti-Tipp. Es gilt Reisewarnung für manche Gebiete der Popmoderne.
Zu Klaus Uhltzscht beispielsweise, Held von Helden wie wir, menschgewordener, real existierender Sozialismus, die konzentrierte Essenz aller DDR-Klischees. Helden wie wir ist ein langer Text, der sich liest wie eine Mischung aus kleinkindlichem Bericht über die verrückten Dinge, die heute im Kindergarten passiert sind, und holpriger Nacherzählung des längsten Herrenwitzes der Welt. Wenn gegen Ende der traurig vegetierende Honecker gegen sich selbst ein hoffnungsloses Mikado-Spiel verliert, nimmt man das beinahe dankbar als literarische Komplexion hin, als die es dem Publikum mit erhobenem Zeigefinger vordoziert wird. Dozieren kann Klaus einiges, war er doch, Kind eines pedantischen Stasi-Vaters und einer Hygieneinspektorin mit, freilich, Reinlichkeitstick sowie unter Dauerbeschallung seitens der – unerlässliches Klischee der Post-Ost-Literatur – 150-prozentigen StaBü- und Russisch-Lehrerinnen, zum Sozialisten geraten. Anale Disposition, bigotter Biedersinn und schlecht kompensierter Selbsthass tun ihr Übriges, um ihn unter seinesgleichen zu treiben: die Kretins der Staatssicherheit, verblödete Sadisten, dumm bis debil und kreuzgefährlich, die von „Dienstgrädern“ sprechen und Poststrukturalismus für eine neue Taktik des Klassenfeinds zur Zerstörung der, nun, Post-Strukturen halten. So nimmt das dann seinen pointenreichen Lauf und wir kehren auf Umwegen am Ende hierhin zurück.
Im humoristischen Graupel fällt vor allem auf, dass das historische Setting DDR oft nur als Verstärkungsraum für schmerzhafte Kalauer noch unter dem Niveau einer Poetry-Slam-Schulmeisterschaft dient, die gerne seitenlang ausgewälzt und erklärt werden, obwohl sie zum Gag-Repertoire der Menschheit seit ihrem Anbeginn gehören. Themen: amtliche Kompetenzanmaßung, Spießertum, nie enden wollende Pubertät und restaurative boy-meets-girl-Geschichten. Einen Einblick in die komplexeren Witz-Einlassungen liefert Klaus in einer Aufzählung seiner großen Missverständnisse: „daß der Premierminister ein Minister ist, der zu allen Premieren gehen muß, daß ich Außenhandel für Straßenhandel hielt und daß der Weltmarkt der größte Gemüsemarkt der Welt wäre.“ Wem das nicht per se schon lustig genug ist, soll bitte nicht vergessen, dass Klaus ja ‚Zoni‘ – das war wirklich mal ein Wort! – und in mehrfacher Hinsicht mit Sozialismus geschlagen ist, und schon zündet das Feuerwerk noch mal. Von den unzähligen brachialen Fäkal- und Genital-Schoten, welche die Durststrecken zwischen diesen intellektuellen Höhepunkten füllen und zu diesem Behelf gerne n-mal wiederholt werden, sei hier nicht die Rede.
Im Kürzeren Ende der Sonnenallee geht es ein wenig beschaulicher zu, nicht ganz wie in der Sperlingsgasse, aber doch mit weniger Laberflash und weit behaglich-anekdotischer. Man weiß manchmal gar nicht Recht wann und wo man sich befindet: irgendwann jugendlich, irgendwann Wehrpflicht, im Generationenkonflikt mit den angepassten Eltern und Vertretern der Gesellschaft und immer geile Mucke am hören, Vinyl-Beschaffung freilich schwierig, aber Hauptsache keine „Tanzturnierschwuchtel“ sein, boys will be boys. Ansonsten sind die Helden dauerblank, dauerhässlich, dauerlauchig, dauergeil und dauernd untergebuttert von den von der Genetik besser bedachten, aber im Kopf natürlich meilenweit überlegen – der Baukasten des Incels, wie er uns schon bei anderen Protagonisten der Popliteratur der 1990er begegnet ist. Zur besseren Orientierung im Wo und Wann dienen wiederum die Klischeefiguren Parteimensch, NVA, Grenzer und ABV; Staatsdiener so strohdumm wie putzig, aber wieder: kreuzgefährlich! Ein besonderes Problem scheint Brussig mit mittelalten Frauen allgemein – die 150-prozentige Lehrerin fehlt auch hier nicht – und Müttern im Besonderen zu haben, die neuerlich besonders eindimensional unausstehlich und selbstgerecht sind. So werden die Helden der Sonnenallee – Gegenstück des perversen Sozialisten Klaus – zur Norm: weiß, jung, männlich, hetero, allgemein gesund also – und gesund asozialistisch, wie es jeder normale, unverbildete Mensch eben ist. Sie kommen gut ohne scheindialektische Verrenkungen mit ihrer umfangreichen Heimwerkerpfiffigkeit und Politaversion durchs Leben, behaupten sich gegen die ideologisch verführte, naive Riesenseele des Ostblocks und seiner Verwalter*innen, und am Rande sei hier auf die Anschlussfähigkeit an antislawische Ideologeme des Nachkriegs-Antikommunismus in der politischen Kultur der Alt-BRD verwiesen. Also doch nicht nur fehlgeschlagene Satire und Schelmerei? Wie schon Klaus, Held wie wir, erkennt, ist es doch zu „leicht, es sich mit diesen Leuten so leicht zu machen.“
Sonnenallee konstruiert, eindeutiger als Helden wie wir, das Kippbild einer vergangenen Idealwelt, die es in ihrer banalen Schwarz-Weiß-Schematisierung wohl niemals gab, ohne die Brussigs freidrehende, vorgebliche Satiren aber gegenstandslos blieben. Scheinbar nebenbei wird den frischgebackenen Bundesbürgern in ehemals Ost und ehemals West, jetzt in alt und neu, in Brussigs Texten ein vielleicht sogar selbst Erfahrenes zum – dank Klamauk, Komplexitätsverkürzung und Klischees – leicht bekömmlichen Erlebnis stilisiert und anekdotisch ins kollektive Gedächtnis geschrieben. Resultat dieses Konstruktionsprozesses ist eine angenehm schnell verständliche ‚Ostalgie‘ für alle – hier die guten Unterdrückten, da die pervertierten Unterdrücker. Nichts von Diskontinuitätsschock und Biographiebruch, von überschrittenen Bewältigungskapazitäten und Deklassierungserfahrungen, nichts von den zahlreichen Ambivalenzen, gesellschaftlichen Frakturen und Transformationsprozessen schon im Vorfeld des Mauerfalls, wie sie Steffen Mau für die ostdeutsche Gesellschaft beschreibt[1] und freilich überhaupt nichts von Alltag und Normalität im Apparat-Sozialismus. Bei Brussig ist das kommensurabel heruntergebrochen: die Erzählung von der Wiedervereinigung als Erfolgsgeschichte für alle Beteiligten, denn was vorher war, du, frage nicht, peinlich, dümmlich – und kreuzgefährlich! Im semantischen Überbau des Dogmas von Fremdscham und Verniedlichung, in der ebenso dogmatischen Annahme einer irgendwie totalitär durchwalteten Lebenswelt, bedarf es keiner weiteren Genauigkeit, Konkretisierung oder Plausibilisierung, sodass jegliche psychische Deviation wie alle aus Privatidiotie resultierende Lächerlichkeit doch eigentlich als Resultat dieses putzig-peinlichen Staatsentwurfs und seiner Grundannahmen erscheint.
Dem Geschichtenpotential[2] der Zäsur, die die Implosion eines Staatensystems darstellt, wird das, nun ja, eher nicht gerecht. DDR ist Todesstreifen, Stasi, SED und – je nach Bedarf – Sächsisch. Später, heute, wird sich dann umfassend gefragt, ob man da mal hätte genauer hinschauen sollen. Zur Erhellung, was problematisch war und werden sollte in der mangelhaften Auseinandersetzung mit den doch etwas differenzierteren Vergangenheiten in Ostdeutschland, können Brussigs Texte nicht beitragen, indem überhaupt die Auseinandersetzung mit mehr als den klischierten Versatzstücken gescheut wird. Schon die Überlegung – um bei den spärlichen Inhalten der Romane zu bleiben – dass Stasi und SED vielleicht nicht nur mit debilen Sadisten besetzt waren, die ein bisschen Thälmann im Zuchthaus und Kleiner Trompeter spielen wollten, sondern auch mit Menschen, die nach bestem Wissen und Gewissen handelten, scheint zu anspruchsvoll für die gebotenen Erzählungen. Der tiefergehenden Reflexion des Vielleicht-Erlebten und Zurecht-Erinnerten enthebt die schrille Überzeichnung. Ist das Gelächter verhallt bleibt das Feindbild scheinbar erklärungstauglich für die nunmehr aktuellen Probleme.
Brussigs radikale Vereinfachung eines Ausschnitts alltäglicher und politischer Geschichte dieses anderen Deutschlands zu einem humoristisch eher faden Analogkäse, in dem welthistorische Perversion mit persönlicher in eins fällt oder durch positiv markierte Normsetzung gekontert wird, geht einher mit der Wiedereinführung der Anführungszeichen im Sprechen über die DDR nach 1990. In der unterhaltsamen literarischen Verhohnepiepelung wird damit einhergehend auch die ganz ernstgemeinte Tabuisierung von politischen Ideen vorbereitet und gestützt. Wenn etwa Enteignung, Verstaatlichung und Gemeinbesitz, Antikapitalismus und Antifaschismus zumindest reklamierte Leitideen im Selbstverständnis dieser possierlichen ‚sogenannten DDR‘ waren, können sie ja selbst nur schlechter Witz sein – und, wie es uns die autoritären Klischee-Figuren der Texte lehren, gefährliche noch dazu, denn sie sind ohnehin immer nur Fassade zum Machterhalt, nie ernstgemeint. Das argumentum ad socialismi realis existentium, der Ausruf: „Das ist doch Sozialismus!“ als scheinbar selbsterklärendes Argument, gründet nicht nur in Kalter-Kriegs-Allüren, sondern wird ebenso scheinlegitimiert durch unterkomplexen Spott, der die Fortführungen der antikommunistischen Klischees aus der heißen Phase des Blockwettlaufs nur noch mehr affirmiert, indem hier einer schreibt, der es mutmaßlich wissen muss: Endlich ein Kultur-Ossi, der nicht jammert, wenn mit einig-vaterländisch Fahnen und historischen Schlussstrichen gedroschen wird – sondern einer, der selbst mitdrischt.
In der Konstruktion einer Opposition von brutal-kindlicher Quatschideologie der Verblendeten einerseits, Konsumsehnsucht und Individualismus der Unbeugsamen andererseits, die die still mitgedachten zahllosen willensbildnerisch Degenerierten dazwischen einschließen, hält Brussig einer teleologischen Erzählung vom nur notwendigen, heiß ersehnten und letztlich mühelosen ‚Sieg‘ des Westens im Kampf der Systeme die Stange, welche einhergeht mit dem „brutale[n] Überschreiben aller Komplexität aus der DDR-Erfahrung“, von dem Jana Hensel als wesentliches Kennzeichen des Schreibens und Sprechens über dieses unser Einheitsdeutschland in den letzten Jahrzehnten des kurzen 20. Jahrhunderts spricht.[3] Das sich anarchisch-skandalös gebende Helden wie wir wie das anekdotisch-harmlose Am kürzeren Ende der Sonnenallee vermitteln dieselbe Ideologie der Postideologie, dieselben gefühlten Wahrheiten, welche dreißig Jahre vehemente Verteidigung der westdeutsch-konservativ-liberal geprägten Erzählung von der ‚Wende‘ grundieren. Zur Differenzierung der Texte wie der Debatte in ihren Erscheinungskontexten tut es wenig, dass Brussig seine Erzähler jeweils auf den letzten Seiten der Romane eine differenzierte, offene Vergangenheits-Debatte und Skepsis gegen oder eine Differenzierung von subjektiven Erinnerungen und Nostalgie fordern lässt. Seine Forderungen treffen ihn selbst.
Was Brussig liefert sind Reiseberichte, Beobachtungen und Innensichten in Form von Räuberpistolen, Schildbürgeranekdoten und emotionalen Erotica, nach denen manches Publikum lechzt: Unterhaltung und Bestätigung des ohnehin schon gutgelaunt geglaubten, das nicht weiter irritiert, no need for Verunsicherung, der Reiseleiter erklärt Ihnen die Peinlichkeiten der Wilden aus sicherer Distanz und so wie sie es schon wussten – schließlich weiß man nicht mehr, ob man gerade einen Thomas-Brussig-Roman oder einen Leander-Haußmann-Film konsumiert hat, aber egal, manchmal eben beides. Nur: die eigentliche Erfahrungslandschaft DDR bleibt weiter terra incognita und schließlich unverständlich. Wenn dieser Staat, dieses gesamte Staatensystem tatsächlich so himmelschreiend lächerlich waren – was sagt das über die aus, die in ihm gelebt haben? Sie waren und sind eben ein bisschen verzogene, gedopte IMs vom Schlage Simpel, auch und gerade, wenn sie das nicht wahrhaben wollen. Wenn Brussigs Texte nur durch Reduktion, Affirmation, Respektlosigkeit vor kollektiven Erfahrungen oder literarischen Figuren und schimmligen Klamauk lustig sein können, was sagt das über sie aus? Sie sind, was es in Zeiten der Postideologie eigentlich gar nicht mehr geben dürfte: ideologische Literatur. Satire wird hier der neoliberalen Affirmation botmäßig.
Endlich nun also die eingangs versprochene Rückkehr an den Anfang, das sich von hier aus erschließende Ende von Helden wie wir: Schlimmer noch verblendet als das Reinsubstrat des real Existierenden, perverser noch als der Perverseste auf dieser Seite des Eisernen Vorhangs, der als wahrlich langsamer Denker immerhin zur späten Einsicht seiner Fehler kommt und uns entsprechend an die Hand nehmen kann, unsympathischer noch als dieser wandelnde psychische Komplex Klaus Uhltzscht sind die von ihm der „Sozialismustümelei“ entlarvten – allen voran, wenig rühmlich nachgetreten mit kaum erträglichem Paternalismus: Christa Wolf –, die es immer noch nicht einsehen wollen, wie falsch sie doch liegen, die immer noch politische Ambitionen haben! Es muss schön sein, sich auf der rechten Seite der Geschichte zu fühlen, auf der klar ist, was nicht sein kann, weil nicht sein darf. Doch dieser Biedersinn, soll uns ein andermal beschäftigen, liebe Leser*innen.
Jetzt noch der Tipp, es soll ja nicht lektürelos in den Urlaub gehen: Wie man humorvoll, kreativ und geistreich unterhaltsam über diesen, aller zeitlichen Entfernung zum Trotz einfach nicht verschwinden wollenden Osten und einfach nicht verschwinden wollende Nachwehen der DDR, akute und chronische Frakturen des Apparat-Sozialismus, schreiben kann, zeigte zuletzt Timon Karl Kaleyta in seinem Bachmann-Preis-Beitrag,[4] zeigt immer wieder Ingo Schulze, zeigte lang vor ihnen Michail Bulgakov. Hier bedeuten Satire, Groteske, Ironie nicht automatisch Komplexitätsreduktion und Affirmation des dem Verhohnepiepelten Anderen. Dass es sich noch besser darüber schreiben lässt, wenn man vergangene Wirklichkeit selbst absurd sein lässt, indem man sie ernst, genau und künstlerisch nimmt, zeigen Manja Präkels, Lutz Seiler und Lukas Rietzschel. Brussigs Stil dagegen ist schlecht gealtert, und auch, wenn sie allenthalben weiterhin begegnen: Die Weltbilder seiner Romane noch schlechter.
[1] Vgl. Steffen Mau: Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft. Berlin: Suhrkamp 2019.
[2] Vgl. ebd., S. 126.
[3] Im Gespräch mit Valerie Schönian: Ostbewusstsein. Warum Nachwendekinder für den Osten streiten und was das für die deutsche Einheit bedeutet. München: Piper 2020, S. 40.
[4] Verfügbar unter: https://bachmannpreis.orf.at/stories/3102279/, letzter Zugriff am 29.07.2021.
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