Hätte, hätte, Kettenbrief

29. März 2021 - 2021 / Kulturproleten meets Beethoven

Eigentlich war alles so schön geplant: Ich würde im Sommersemester 2020 ein Beethoven-Blockseminar veranstalten und in netter Gesellschaft noch ein wenig weiter über den weltberühmten Typen mit der wilden Mähne und sein Werk nachdenken. Passte im Geburtstagsjahr eh ganz gut und überhaupt hatte das ja im Wintersemester 2018/19 in Kooperation mit Michael Custodis und Moritz Baßler schon viel Spaß gemacht. In Vorbereitung auf das Beethoven-Jahr 2020 und die Ausstellung Ludwig lebt! Beethoven im Pop, die demnächst endlich im rock’n’popmuseum in Gronau eröffnen wird, hatten wir gemeinsam mit Bachelor-Studierenden aus Germanistik und Musikwissenschaft entlang an Beethovens bekanntesten Sinfonien über alle möglichen Pop-Phänomene nachgedacht. Die offensichtlicheren: Charles M. Schulz‘ Peanuts, Chuck Berrys „Roll Over Beethoven“, A Clockwork Orange in sämtlichen Varianten… und die, auf die man erst nach ein bisschen Nachdenken kommt: Gus Van Sants Elephant, Rowan Atkinsons Version der „Ode an die Freude“ oder die von Judith Holofernes.

Jedenfalls hatten wir über alle möglichen Pop-Phänomene nachgedacht – und viele davon schließlich auch in unserem Katalog-Sammelband-Hybrid diskutiert. Aber wir hatten eben längst nicht über alle nachgedacht und es gab immer noch ausreichend Material, mit dem man sich auseinandersetzen konnte. Blockseminar also, weiterdenken also, dieses Mal mit Studierenden aus den Masterstudiengängen Germanistik und Kulturpoetik der Literatur und Medien.

Und es hätte so schön werden können: Vorbesprechung im gemütlichsten Raum des Germanistischen Instituts, Ideen austauschen, Pläne machen, über einige Wochen hinweg individuell recherchieren, forschen, denken und schließlich alles an zwei Wochenenden kompakt und intensiv miteinander diskutieren – zwischendurch gemeinsam Mittag- oder Eisessen. Abends Filmprogramm. Blockseminar halt. Getoppt hätten wir unsere gemeinsame Zeit mit einem Besuch der bis dahin längst eröffneten Ausstellung in Gronau. Es wäre so schön gewesen. Aber alles kam bekanntermaßen anders: Keine Treffen in Präsenz, erschwerte Bibliothekszugänge, Ausstellungseröffnung verschoben. 2020 halt.

Und nun? Naja… an der Universität zu Münster hieß die Lösung wie (fast) überall Zoom. Podcasts statt Thesenpapiere, Videokolumnen statt Referate und, klar, eifrig diskutiert wurde trotzdem, aber nicht im gemütlichen Seminarraum, sondern eben digital (im vermutlich immerhin gemütlicheren Wohn-/Arbeits-/Schlafzimmer, auf dem Balkon oder im Garten).

© Anna Seidel

Weil digital zwar manchmal besser sein mag, analoge Verknüpfung in isolierten Zeiten aber auch eine feine Sache ist, ging außerdem ein Kettenbrief auf die Reise. Den letzten hatte ich vermutlich 1995 weitergeleitet und vermutlich war er mit Stoff-Stickern dekoriert. 2020 musste eine der blauen Beethoven-Briefmarken genügen, die die Deutsche Post extra zu Ludwigs 250. Geburtstag herausgebracht hatte. Dafür ging der Brief dann aber auch nicht bloß zur Sitznachbarin in der Schulklasse, sondern gleich ins Nachbarland. Das war ja auch so eine Sache: Wer eigentlich das Sommersemester via Erasmus mit uns in Münster verbringen wollte, musste ja nun doch daheimbleiben. Mit dem gemeinsamen Eisessen wäre es eh schwierig geworden. Stattdessen also doch eine These auf Papier, ein Heftchen Briefmarken und einige Leute, die Briefumschläge, Lust und Ideen hatten, um sich auch zwischen den beiden Videokonferenz-Kompaktphasen ein wenig über Beethoven und seine Spuren auszutauschen.

Ein Kettenbrief ist nicht Stille Post, aber man muss trotzdem geduldig sitzen und abwarten, was ankommt und wie die These weitergetragen wird. Erste Station Anfang Mai also: Ein Dorf in den Niederlanden. Von dort aus weiter nach Oberhausen, Salzbergen und Münster, Münster, Münster, Münster, Münster und schließlich im September, lange nach dem Ende des Blockseminars, wieder zurück zu mir ins Ruhrgebiet.

Aus der These auf Papier mit ihrer Frage nach Originalität und Verweisketten war inzwischen selbst eine Gedankenkette geworden, angereichert mit Beispielen wie Saturday Night Fever und einem Café namens Beethoven, für die dann irgendwo zwischen Münster und Münster ein einziger Zettel nicht mehr ausreichte.

© Anna Seidel

Inzwischen ist wieder ein halbes Jahr vergangen, seit der Brief wieder bei mir gelandet ist und bei der erneuten Lektüre stelle ich wieder fest, dass uns der fehlende Hot Take zu Beethoven auch nicht gelungen ist – auch wenn die Forschung zu seinen Spuren im Pop wirklich nicht besonders breit ist. Die angestellten Überlegungen jedenfalls zu Zitationspraxen im Pop, zu Hommagen, zur Ver-jingle-ung klassischer Musikstücke oder zur Kommerzialisierung von Künstlern, die zur Marke werden, sind für den Diskurs sicher nicht neu.

War es trotzdem eine gute Idee, analoge Connection in digitalen Zeiten zu organisieren? Oh ja! Nicht nur, weil die Überlegungen zu all of the above für einige Briefschreiber*innen vielleicht durchaus neu gewesen sind. Auch weil es mit dem persönlichen Kontakt, der so ein Uni-Seminar ja idealerweise auch ausmacht, dieser Tage nicht ganz so einfach ist. Das wird im Sommersemester 2021 leider nicht anders sein. Man trifft Kommiliton*innen grad leider nicht auf einen Schnack am Cola-Automaten oder am Kopierer. Hätte, hätte, Kettenbrief. Ein Umschlag im Postkasten, der mit der Handschrift der Kommilitonin beschriftet ist, ist zwar nicht besser als der Schnack am Cola-Automaten, aber immerhin doch wesentlich besser als nichts.

 

Im Seminar haben wir natürlich nicht nur am Kettenbrief herumgedacht, sondern entlang der Fragen nach Kenner*innenschaft und Klischeereproduktionen etwa auch an den Wolfenstein-Games, an Loriot-Sketchen und McDonalds-Werbespots, an Songs von Chuck Berry, Nas und Judith Holofernes und an Texten von E.T.A. Hoffmann und Charles Bukowski.

Einen Teil ihrer Überlegungen verbloggen nun in den kommenden Wochen einige der Kulturpoet*innen und Germanist*innen, die im letzten Sommersemester an meinem Seminar Beethoven-Lektüren: Romane, Comics, Songs und Co. teilgenommen haben. Den Anfang machen Chris Flinterman und Anna Braese, die nochmal einen Blick auf Chuck Berry Forderung „Roll Over Beethoven“ werfen. Fest steht: We gotta hear it again, wenn schon nicht today, dann aber kommenden Montag. Jana Bernhardt und Nuria Mertens widmen sich in der darauffolgenden Woche der in zahlreichen Gedichten von Charles Bukowski imaginierten Freundschaft zu seinem Buddy, the Bee, wie er den Komponisten vertraut nennt. Anna Maria Plischka liest dann nochmal E.T.A. Hoffmanns Rezension zu Beethovens 5. Sinfonie – ist sein Text in der Leipziger Allgemeinen musikalischen Zeitung gar der Grundstein des Musikjournalismus? In drei Wochen wissen wir mehr.

© Kulturproleten

 

 

 

Anna Seidel

› tags: 2020 / 2021 / Ausstellung / Beethoven / Charles Bukowski / Chuck berry / E.T.A. Hoffmann / Germanistik / Judith Holofernes / kulturpoetik / ludwig lebt! / Münster / NAS / pop / Rock / seminar / WWU /

Comments

  1. Eigentlich eine schöne Idee, so ein Brief. Dazu lass ich mir mal was einfallen. Danke für die Idee, auch wenn es für deinen Zweck nicht der totale Bringer war.

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