
Ich sehe was, was du nicht siehst: fehlende Argumente – Zum Netzwerk Wissenschaftsfreiheit
8. Februar 2021 - 2021 / soziotext
Canceln ist Kult. Oder eher: sich gecancelt, also in irgendeiner Form in beruflichem Schaffen und freier Meinungsäußerung zensiert und unterdrückt zu fühlen, wobei den mutmaßlichen Zensurverantwortlichen stets ‚ideologische‘ Motivation zugeschrieben wird. Vertreter*innen verschiedener Berufsgruppen erkennen nach und nach das Publicity-Potential des schwerwiegenden Vorwurfs von Unterdrückung. Waren es zuletzt noch die unser akademisches Milieu eher als Forschungsgegenstände betreffenden hauptberuflichen Witzeerzähler*innen aus der Sparte Massenunterhaltung, hat sich der Kult des Unterdrücktfühlens nun auch unter Wissenschaftler*innen eingeschlichen, von denen sich einige in ungefragter Stellvertretung einer antizipierten schweigenden Mehrheit zum Netzwerk Wissenschaftsfreiheit zusammengeschlossen haben, um gegen das Gefühl ‚ideologischer‘ Unterdrückung ihrer freien Lehre und Forschung durch Kolleg*innen und Studierendenschaft anzugehen. Als kritische Studierende und Teil des in Frage stehenden akademischen Betriebs sehen wir uns zur – wenn auch etwas polemischen – Stellungnahme gegenüber einigen Unklarheiten im Vorhaben, eine (nicht nur) universitäre Cancel Culture herbeizureden und sich als skandalöse Opfer politischer Verfolgung zu stilisieren, verpflichtet. – Die Kulturprolet*innen
Ideologie, Meinungen und Argumente
Aufgemerkt! Es geht um Ideologie, sogar die Kritik von Ideologie, zwar nicht um Ideologiekritik, aber immerhin, und das auch noch aus dem Inneren der Universitäten der ganzen Republik, wort- und traditionsstark als Manifest[1] benannt! Aber Moment, was sind das für „ideologisch motivierte Einschränkungen“, die hier beklagt werden? Von denen man sich befreit sehen möchte, die Toleranz und freies Forschen verhindern? Ach, so bald kommt die Ernüchterung: es sind moralische und politische Vorbehalte, es geht um „Weltanschauung und politische Ziele“, und zwar die dubioser, schattenhafter Einzelner. Aber was denn nun die so wirkmächtigen „moralischen, politischen und ideologischen Beschränkungen“ sind und wo sie sich manifestieren, bleibt im ‚Manifest‘ nur schattenhaft angedeutet.
Aufklärung schaffen soll ein ausführliches Interview[2] mit zwei Initiator*innen dieses Netzwerks Wissenschaftsfreiheit. Ideologie, das ist, Überraschung: irgendwie Political Correctness und despotische Gender-Studies, die Cancel Culture und davon fehlgeleitete Wissenschaftler*innen und Studierende, die sich politisch motiviert dazu anschicken freie Forschung und Lehre schon im Keim zu ersticken. Dass es eigentlich diese bösen Gender-Studies sind, die am ehesten von Erstickungsanfällen und politisch motivierten Übergriffen gefährdet sind, ist dabei ebenso wenig entscheidend, wie deren eigentliche Randständigkeit in der akademischen Landschaft. Sie sind böse, weil sie irgendwie Haltung zeigen, da sie „über moralischen Druck arbeiten“, weil sie irgendwie allesamt „intolerant gegenüber abweichenden Argumenten sind“ und weil sie „gemäß ihrer politischen Einstellung […] ein absoluter Wahrheitsanspruch“ kennzeichnet. Dass derlei Aversionen selbst ein eigenwilliger Anspruch an absolut objektive, über den Dingen stehende Wissenschaft kennzeichnet – geschenkt. Dass das die üblichen Narrative einer allzu bekannten, selbst oft dezidiert politisch generierten Intellektuellenfeindschaft aufs neue in das Gewand von Meinungsfreiheit kleidet, sei zumindest angemerkt. Dass das gesamte Projekt aber eine nichts weiter ist als eine wissenschaftlich angemalte, obskure Bigotterie, sei einmal näher betrachtet.
Im Stil des unheimlichen, dystopischen, verschwörerischen Raunens und Andeutens reicht das Gefühl, wie etwas unter der Oberfläche tatsächlich ist, zum Beweis, dass es so ist, völlig aus. Gute wissenschaftliche Praxis ist das nun nicht unbedingt, sind doch persönliche Befindlichkeiten, Emotionales und Anekdotisches – frei nach dem Schema ‚Ich-kenne-ja-auch-einen-der‘ –, thesenhafte Behauptungen eines Sachverhalts und eine ziemlich kleine Hand voll Extrembeispielen nur schlechte sachliche Argumente. Aber in der vorliegenden Erzählung gilt dieser Vorwurf eben nur für den Raum, in dem sich die Anderen befinden, und wird da auch als ganz und gar problematisch erkannt: „Kritik begegnen sie nicht mit Argumenten, sondern mit moralischer Diskreditierung“, verlautbart die Mitinitiatorin Sandra Kostner im Interview. So an die Anderen ausgelagert, ist man offensichtlich der Pflicht enthoben, selbst auf Vorwürfe sachlich argumentierend zu reagieren und kann, moralisch diskreditierend, diesen politisch-hintersinnigen Mangel jeglicher Toleranz aus der gefühlten Opposition herauspoltern. Vielleicht käme man, würde man tatsächlich einen der recht grob gezimmerten Gegenspieler*innen des Pamphlets in der außermanifestären Wirklichkeit dingfest machen können, mal auf die Idee, dass sachliche Diskussionen mit derlei Demagogen eher ein Traum aus der Zeit der Habermas-Romantik als eine sinnvolle Möglichkeit der Entscheidungsfindung sind: In derlei ‚Diskussionen‘ scheitern alle Argumente an der militanten Renitenz der Meinungsinhaber*innen. Möglicherweise sollte man diese Erkenntnis bei denen voraussetzen, die sich – was erlauben studentisches Engagement! – umfassend Scheindiskussionen von Podium und Cancel(-Vorwurf) herab verbitten.
‚Cancel Culture‘ – Geschichten zum Gruseln
Überhaupt diese leidige ‚Cancel Culture‘: Man muss sich nur einmal, und noch nicht einmal sonderlich genau, anschauen, wer die ganze Zeit mit deren verbaler Etablierung befasst ist, um zu sehen, dass man in denkerisch recht trüben Gewässern mit wenig Tiefgang unterwegs ist: Unter denen, die im Zuge der ansatzweisen Erschütterung von Privilegienmonopolen und unter den Erfordernissen besserer (sachlich-argumentativer!) Rechtfertigung ihrer öffentlichen Stellung bemerken, dass sie nichts beizutragen haben, wenn es um den freien Wettbewerb des besseren Arguments und interessanteren Gedankengangs geht. Und also sich selbst andere Relevanz schaffen müssen, durch den Anschein des Verhinderten, des Mutigen, der, eigentlich allermeistens der, zunächst einmal raunt vom Redeverbot, vielleicht auch noch Bestandsaufnahme des Nicht-Mehr-Sagbaren betreibt und dann vielleicht sogar ein bisschen was von dem sagt, was nicht mehr zu sagen ist. Das sind die finsteren Auswüchse sprachlicher Performanz, die im Akt der Äußerung erschafft, was sie behauptet. Ungeachtet dieser Einordnung bleiben die Tatsachen bestehen, dass, was nicht vollkommen hirnlos ist, auch gesagt werden kann hierzulande und dass die Möglichkeiten zur Äußerung und Publikation – zum Beispiel in einseitigen Zeit-Interviews – wohl selten größer waren und daher eigentlich nur, wer nichts zu sagen hat, wirklich behaupten kann, er könne nichts sagen. Mittelmäßige Haudrauf-Komödiant*innen und -Kolumnisten sind letztlich doch eher schlechte Gesellschaft, wenn es um differenzierte Diskussionen und Gegenwartsdiagnosen geht. Skandal und bierernstes Heldentum des Verbotenen-Sagens aus der Retorte sind so bequem wie lukrativ, die berüchtigten sachlichen Argumente dafür nur hinderlich: Hier stehe ich und kann nicht anders, um an meine 15 Minuten Diskurshoheit zu kommen. Unter dem Anspruch, dafür dann unwidersprochen umarmt zu werden, tun es die mutmaßlich Gecancelten nicht. Toleranz wird an dieser Stelle mit Akzeptanz verwechselt, damit, dass man eben hinnehmen muss, wenn jemand anderer Meinung ist – und wird so eine zweiteilige Operation: Ich sage etwas anderes als jemand anderes und dann ist schon Schluss.
Lässt man die B-Movie-hafte Gruselgeschichte der Netzwerker*innen einmal bestehen, bietet sich ein finsteres Bild: Einerseits das Fähnlein der 70 Aufrechten, andererseits die Chefideolog*innen vom dekonstruktiven Gender-Dienst, deren höchstes Ziel – was die eben so machen den ganzen Tag – die Abschaffung des Geschlechts und die Errichtung eines totalitären universitären Einheitswesens ist. Dazwischen die von denen da oben in den Gremien terrorisierte Masse. Das Private ist für diese Feminist*innen pardon: Gegner*innen der Wissenschaftsfreiheit ja immer gleich so politisch, anders als für den Freiheitsverteidiger Andreas Rödder, der zwar nicht Wissenschafts- und Meinungsfreiheit – vielleicht ist das des Pudels ganzer Kern? –, dafür aber sich selbst trennen kann in den Politiker aus dem Merz-Umfeld und den Wissenschaftler in Mainz. Der auch erkennt, dass Sprache Gewalt ist – aber offensichtlich nicht so weit denkt, dass das große düstere Geschwafel von der Ideologie und Cancel Culture vulgo böser Gendermainstream weder substantielle Kritik bedeutet, noch dass er sich damit meinungsbildnerisch nicht in beste Gesellschaft begibt. Auf die Idee, dass das generische Maskulinum ein sehr gutes Beispiel für sprachliche Gewalt ist, kommt er leider auch nicht – manche finden geschlechtsneutrale Sprache richtig und nutzen sie, das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit sieht das anders, und Schluss. Ist das schon ein Denkverbot? Es ist zumindest radikal ignorant. Wie das weitere Lamento Rödders: „Wer, wie ich, das generische Maskulinum verwendet, spürt einen Rechtfertigungszwang.“ Je nun, Herr Professor, Tränchen verdrücken, sachlich-argumentativ tragfähige Rechtfertigung des eigenen Handelns und Meinens ist doch gerade, was die Debattenkultur ausmacht, das ist doch kein irgendwie aus der Postmoderne resultierender Unsinn! Ebenso wenig wie der naturalistische Fehlschluss, auch der ein alter Hut. Zur Erinnerung: Da geht es um eben das Problem, dass nur weil etwas ist, dieses nicht unbedingt gut sein muss, wie es ist. Sprachliche Gewalt zum Beispiel.
Wilder noch wird der scheinargumentative Spagat zwischen gefühlter Bedrohung, Sachlichkeit und Immer-die-Anderen, wo eben auf Basis der missverstandenen Toleranz als Akzeptanz doch eigentlich selbst ein Aspekt der verteufelten dekonstruktivistischen Postmoderne eingeklagt wird: Political Correctness, nein danke, es sei denn, ich werde nicht korrekt behandelt und als Teil einer vermeintlich gefährdeten Pluralität der (Forschungs-)Kulturen und (Meinungs-)Identitäten mutmaßlich irgendwie aus dem finstern Hintergrund intransparenter Vorgänge – globaler womöglich – anerkannt. Aber derlei Erkenntnis der eigenen Bigotterie erforderte freilich eine nähere Auseinandersetzung mit dem Thema und den erklärten Gegenspieler*innen, die übrigens auch eine besser als so mehr vom Gefühl her fundierte Argumentation mit den ungeliebten Theorie- und Forschungsansätzen ermöglichen würde.
Ideologischer Lockdown – (nicht) sehr aussagekräftig
Das eher verunklarende Statement der beiden Meinungsführer*innen der Wissenschaftsfreiheit Rödder und Kostner schließt mit dem argumentativen Husarenstück, dass es doch „sehr aussagekräftig“ sei, dass potentielle Unterzeichner*innen ihre Zustimmung zurückhalten würden, bis sich die öffentliche Meinung zum Vorhaben geregt hat. Das ist so aussagekräftig wie tautologisch, in einer studentischen Hausarbeit gäbe es dafür keine Bestnoten und verweist auf einen „intellektuellen Lockdown“ ganz anderer Art. Gegenfrage: Mehr als die Hälfte der Unterzeichner*innen hätten keine eigenen negativen Erfahrungen gemacht, stellen die Interviewten fest. Heißt das also, man macht das also nur aus dem Gefühl für eine irgendwie totalitäre Entwicklung heraus? Ist das nicht auffällig, irgendwie, widersprüchlich sogar für die Behauptung eines umfassenden Unterdrückungszustands durch die dekonstruktivistische Kaste? Und ist das nicht irgendwie komisch, zu behaupten, dass „Viele merken, dass es anderen so geht wie ihnen“, aber dann doch nur die „Wissenschaftsfreiheit des Einzelnen“ verteidigt werden soll? Und was sind denn nun die gecancelten „umstrittenen“ Themen, und wo ist denn der Zitatnachweis, dass der Grund für die Ablehnung von Projektanträgen die fehlende geschlechtsneutrale Formulierung ist, und, und, und… alles etwas unklar im Rahmen dieser unterkomplexen Erzählung vom Ende freiheitlicher Hochschulkultur.
Ideologischer Lockdown ist das sehr wohl. Aber einer, der ziemlich selbstverschuldet ist, so mein persönliches Gefühl, aus dem heraus mir schwant, wie durchdacht das ganze Vorhaben ist, und das ohne die Winkelzüge der Drittmitteleinwerbung zu kennen. Mir macht solcherlei ‚Kritik‘ von akademischer Seite ein ziemlich unbehagliches Gefühl, so ein Verlangen, nach der tatsächlichen Existenz einer Cancel Culture. Also doch Bestätigung der Vorwürfe? Nein, nur die Aufforderung mit einerlei Maß zu messen und beim argumentativ-ideologischen Kehraus vor der eigenen Tür zu beginnen. Anekdoten und Gemunkel, Aktionismus so vom Gefühl her, das hat wenig mit sachlichen Argumenten, mit guter wissenschaftlicher Praxis oder Forschungsfreiheit zu tun – sondern eher mit einer besonders eigenwilligen Art von „ideologischem Aktivismus“.
[1] https://www.netzwerk-wissenschaftsfreiheit.de/ueber-uns/manifest/
[2] Die Zeit, 04.02.2021, S. 26 und unter https://www.zeit.de/2021/06/freiheit-wissenschaft-netzwerk-andreas-roedder-sandra-kostner-forschungsfreiheit.
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