
Bildungsroman redivivus – Herrndorfs Tschick
18. Januar 2021 - 2021 / soziotext / texttext
Wo wir einmal bei Herrndorf sind: Vor gut zehn Jahren erschien sein Roman Tschick (2010), der aus dem Stand aus dem bisherigen Popliteraten-am-Rande einen allgemein anerkannten Autor gemacht hat. Die Besprechungen in den Feuilletons von renommierteren Wochenzeitungen bis zum Lokalblatt liefern einen Präzendenzfall der Lobhudelei über den grünen Klee hinaus und hinein in den Schulkanon. Zum 10-jährigen Jubiläum des schon bei erscheinen zum Kultbuch stilisierten Roadmovie-Jugend-Coming-of-Age-Romans, freilich auch für Erwachsene lesenswert, wie allüberall versichert worden ist, zeigten sich die RezensentInnen – selbsterfüllende Prophezeiung – neuerlich unisono überzeugt von beeindruckender Zeitlosigkeit und entsprechenden überzeitlichen Einblicken ins Allzumenschliche. Grund genug für eine Relektüre.
Für ein Roadmovie braucht es u.a. – das haben die Beat-Poeten und der Reisefilmer Wenders zur Genüge klar gemacht – Ennui, eine besondere Wahrnehmungsdisposition für das Merkwürdige am Wegrand und Musik. Dass zur musikalischen Untermalung der Provinzdurchmessung in Tschick nur Richard Claydermann klimpert, kann man dankend für einen der besten Einfälle des Textes nehmen – Herrndorf verschont uns dadurch mit dem erwartbaren Überfluss grobgezimmerter Popmusik-Referenzen. Ennui hat der Erzähler Maik dafür reichlich. Zwar leidet der in materieller Hinsicht überaus sorglos vegetierende Jugendliche ausdrücklich nicht an der kaputten Ehe seiner Eltern, an den Ausbrüchen seines Vaters oder am Alkoholismus seiner Mutter, dafür aber an einer recht hoffnungslosen Teenager-Verliebtheit und einer ausbleibenden Partyeinladung seiner Flamme – die Leiden des jungen Klingenberg. Die Wahrnehmung seiner Umwelt schließlich ist schon vor Abfahrt ins große Sommerferienabenteuer recht scharf und gründlich, gemessen an den Möglichkeiten, die ein so schwer leidender Jugendlicher haben kann.
Maik Klingenberg macht sich Gedanken über die mehr oder weniger offensichtlichen Widersprüche in seiner Umwelt, beobachtet und wertet aus. Dabei verrennt sich sein ansatzweise kritisches Bewusstsein jedoch allzu oft im popliterarischen Zwang des ‚witzigen‘ Gedankens und schiefen Vergleichs, jugendromantisch kanalisiert und entschärft:
Das war wie 3D-Bilder angucken […]. Andere Leute konnten das immer besser als ich, bei mir geht das fast gar nicht, und immer gerade in dem Moment, wo ich das Unsichtbare sehe, was meistens eine Blume ist oder ein Reh oder so was, verschwindet es sofort wieder, und ich kriege Kopfschmerzen. Und genau so ist das beim Nachdenken über meine Eltern auch, und ich kriege Kopfschmerzen davon. Und deshalb denke ich nicht mehr darüber nach.
Maik neigt überhaupt dazu, seine Reflexionsversuche mehr oder weniger fatalistisch mit sentimentaler Empathie zur Ratlosigkeit zu ersticken. Als SchulbuchleserIn kann man hier vielleicht, abgesehen von ausnahmsweisen Blüten, nicht gründlich Denken lernen, aber die Tendenz ist eine richtige, weil den Menschen und seine Privatirrtümer zunächst einmal oberflächlich anerkennende Richtung. Die stilistischen Versatzstücke von Jugendslang, der sich bekanntlich nicht durch sonderliche sprachliche Raffinesse auszeichnet, und Imitation von elliptischer Mündlichkeit lassen sich ebenso wie die chaotische medias-res-Rückblende-Epilog-präsens-präteritum-Konstruktion im Lauf der Erzählung als Konsequenz der beschränkten, ungründlichen Perspektive lesen.
Jedoch: Alles lässt sich damit – und darüber der Text als eben irgendwie schön naiver Jugendroman – nicht erklären oder entschuldigen. Es stellt sich die übliche Frage: Warum schreibt Herrndorf das so? Nicht nur sind die chaotische Konstruktion oder die unmotivierte Binnenhandlungsvermittlung, die so inkonsequent einsetzt wie endet, auf Dauer in keiner Weise positiv irritierend, sondern nur ermüdend, auch sind die überbetont schrillen, absurden, mysthelnden Stationen auf der Reise durch die zwar ortlose, aber insgesamt doch einfach lokalisierbare Topographie nicht mehr als eigenwillig, letztlich eine aussagelose Reihung überzeichneter Einfälle, sodass sie besonderer Aufmerksamkeit eigentlich nicht bedürfen – Textblähungen als Konzessionen an die buchhändlerisch notwendige Seitenzahl einer Romanerzählung und die Verpflichtung auf das Genre.
Vor allem stellt sich aber die Frage, bei derartigen Verwerfungen in Konstruktionslogik und Produktionsästhetik: Warum Tschick? Der Titelheld aus einer ‚sozial schwachen‘ Spätaussiedlerfamilie mit, freilich, krimineller Neigung, wohnhaft in den Brennpunkt-Blocks Hellersdorf-Marzahns und doch, Klassismen und Rassismen – die sich sehr ungeschickt und ehrlich in Maiks ‚normaler‘ Perspektive spiegeln – zum Trotz auf dem Weg zur Bildungsemazipation im Kleinen, bleibt dermaßen entindividualisiert, das er nur als Stichwortgeber zum Aufbruch, als Sidekick und Projektionsfläche für Maiks Exotismen und Ausbruchsphantasien taugt. Exotismen sind das nicht nur in hinreichend explizierter äußerlicher Hinsicht in Sachen „Schlitzaugen“, „Asi“-Klamotten und Alkoholproblem mit 14, sondern ebenso in psychischer: einerseits der Homosexuelle, andererseits der machohafte Macher- und trotzdem gefühlsfähige Mackertyp.
Herrndorf kommt kaum auf die Idee, diese Schwächen in Maiks Ich-Perspektive als Schwächen mehr als andeutungsweise herauszustellen, sodass es wohl – zumal es keiner Rezension in den Sinn gekommen ist, dieses Problem der Normsetzung zu kritisieren – einer interpretativ über das Übliche hinaus geschulten Lehrkraft bedarf, um das aus dem Text herauszuarbeiten. Im Inhalt angelegt sind dabei noch ganz andere, wesentlichere Probleme einer so konstruierten Freundschaft, die nicht explizit verhandelt werden. Kaum wird die Herkunft Tschicks über das äußerliche und innerliche Othering hinaus thematisiert, gar nicht sind die sich eigentlich aufdrängenden Konflikte von Herkünften und Erfahrungen von Interesse. Auf diese Weise – ganz ähnlich funktioniert die Beziehung zur Naturgewalt und -gestalt Isa, nur in eindeutig heterosexueller Nuancierung – bleibt Tschick der Andere, dazu bestimmt, Maik zur Selbstfindung und Gesundung von seinen schweren Leiden zu verhelfen. Folgerichtig bildungsromantisch darf Maik sich nach Ende der kurzen Odysee entlang zahlreicher Deus-Ex-Momente in die Gesellschaft reintegrieren – Tschick wird ins Heim gesperrt. Was denken sich da wohl jugendliche RezipientInnen, deren größtes Problem nicht moralische Wohlstandsverwahrlosung ist?
„Im richtigen Leben ist das albern“ heißt es – und das kommt uns doch bekannt vor – zu Beginn des Romans. Aber das stimmt nicht ganz: Es ist recht schludrig und zu einfach, auf diese Weise eine vermeintliche Selbstfindungs- und Jugendfreundschafts-Geschichte zu erzählen. Hochproblematisch ist es, wenn der Text allenthalben der Kritik seiner Fehler durch seinen Kult-Status enthoben scheint und nur als Irgendwie-Schön-Roman die absolute Norm-Perspektive liefert, die durch ausbleibende Infragestellung affirmiert wird. Vielleicht erklären gerade das Stinknormale an der Normalperspektive und das resultierende identifikatorische Potential den Erfolg von Tschick. Andere Texte wurden für weniger verrissen, dieser ist zum Bestseller geworden und wird es wohl bleiben, immer weiter Norm setzen, solange der einträgliche Mythos Herrndorf besteht.
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