Dieter Roths Portrait of the artist as Vogelfutterbüste (1969): Klebrig süße Kulturkritik
2. Dezember 2017 - 2017 / Allgemein / bildtext
Dieter Roth: Portrait of the artist as Vogelfutterbüste (1969); Schokoladenguss mit beigemischtem Vogelfutter auf Sperrholzplatte.
Grenzen und Lücken sollten den thematischen Schwerpunkt dieser Ausgabe von einHeft darstellen. Ein Thema, das mit dem ersten Eindruck Separation suggerieren mag. Doch halt. In der Beschäftigung mit Dieter Roths Portrait of the artist as Vogelfutterbüste, wie es hier, im LWL-Museum für Kunst und Kultur zu betrachten ist, stellt man schnell fest: Hier sind Grenzen da, um eingerissen zu werden. Räume verhalten sich regelrecht fließend und stellen keine statischen Größen dar.
Von draußen nach drinnen
Das beginnt schon damit, dass das Objekt, das wir sehen, niemals ein Museumsexponat hätte werden sollen. Der Künstler pflegte Zeit seines Lebens eine eher kritische Haltung Institutionen gegenüber. So ließ er dann den Namen des Kunstwerks Programm werden: Hochbetagt stellte er die Plastik aus Schokolade und Körnern, gleich einem illokutionären Akt, in seinem Garten auf. Dort war der empfindliche Werkstoff Wind, Wetter und hungrigen Vögeln ausgesetzt, die allesamt ihre Spuren an der Büste hinterließen und der Plastik die Gestalt verliehen, in der sie uns heute erscheint.
Denn Schokolade ist ein empfindliches Material und das ändert sich auch nicht, wird es mit an sich sehr festem Vogelfutter durchsetzt. Auch so reagiert sie auf Temperaturschwankungen und andere Umwelteinflüsse, und zwar unmittelbar. Die Konsequenzen können wir an P.O.TH.A.A.VFB heute betrachten: Anstelle des einheitlichen Schokoladenbrauns ist die nun poröse Oberfläche in helleren Schattierungen stark verfärbt. Von Schultern, Nase, Kinn und Ohren hängen feine Gespinste gealterten Fettes herab.

Alix bei der Lesung von „EIN HEFT ist ein Heft ist ein zweites Heft“ am 10. Juli 2017. (© Kulturproleten)
Werkimmanente Grenzbrüche I. Mitalterndes Selbstporträt
Der Titel Portrait of the artist as Vogelfutterbüste, der den Sockel der Büste ziert, wird weitläufig (u.a.) als Titel eines Selbstporträts gedeutet. Mit der Wahl der Schokolade als Werkstoff bricht Roth mit der Tradition der klassischen Büste, die vor allem aus stabilen, beständigen Materialien gefertigt wurde und wird. Aus einem Material, das landläufig als Nascherei gehandelt wird und in frischem Zustand mit süßen und lieben Erinnerungen konnotiert sein mag, schafft Roth etwas, das mit dem Verstreichen der Zeit dem wahrhaftigen Anspruch eines (Selbst-)Porträts um einen bedeutenden Schritt näherkommt, als Stein oder Marmor es vermögen: Roths Selbstporträt befindet sich im Wandel, altert, verfällt. Die Schokoladenbüste vollzieht gleichsam einen performativen Akt, der uns den Prozess des Alterns in einem Atemzug mit der Vergänglichkeit und dem Verfall des Werkstoffs erleben lässt.
Der Schritt über die institutionelle Grenze
Wie bereits angedeutet, war Dieter Roth kein großer Freund von Kunstmuseen, insbesondere von ihrer archivarischen Funktion. So vertrat er die Auffassung, sie stellten eine Art Endlager für Kunst dar, in dem diese – und insbesondere seine Kunst – zwangsläufig Bedeutung einbüße oder gar verliere. Andererseits konnte er sich mit dem Gedanken des Bewahrens seiner Werke durchaus anfreunden, solange die Konservierung als solche zu erkennen bliebe und nicht etwa in Form möglichst unsichtbarer Restaurationsmaßnahmen stattfände.
So kam es, dass die besagte Büste kurz vor seinem Tod der Sammlung eines Kunstmuseums einverleibt wurde, wo sie seitdem hinter Plexiglas (deutlich sichtbar, wie gewünscht) vor weiterem Verfall geschützt wird. Mit diesem Schritt geht der ursprüngliche Charakter des Kunstwerks skurrilerweise in dem Moment verloren, da das Objekt von institutioneller Seite als Kunst deklariert, inszeniert und einer Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt wird. Nicht länger vollzieht sich hier die Performance von Vergänglichkeit, kein Wandel ist mehr zu beobachten. Stattdessen wird der kleine krustige Kopf zu einem eingefrorenen Stück Zeit.
Zwischen Räumen
Jetzt gehört die Arbeit zu dem Bestand dieses Museeums und ist im zweiten Stock bei der Gegenwartskunst zu betrachten. Die Dauerausstellung ist in einer kunsthistorischen Chronologie angeordnet, in der sich Besucher_innen ausgehend von der Kunst des Mittelalters bis in die Gegenwartskunst vorarbeiten können. Der Beginn der Gegenwart wird hier in den 1960er Jahren verortet. So stellt das Abteil, in welchem sich Roths Büste (als eines von mehreren hier ausgestellten Exponaten des Künstlers) befindet, den Eintritt in die entsprechende Abteilung des Museums dar.
Der Raum, der auf einer Tafel die Herkunft seiner Exponate verkündet (Sammlung Cremer, also wieder von außerhalb), ist durch ein breites Foyer von denen der Kunst der ferneren Vergangenheit getrennt. In der Durchschreitung des Foyers findet eine räumliche wie gedankliche Zäsur statt, die die sogenannte Gegenwartskunst von der historischen trennt. Willkommen im Jetzt, hier gibt’s Schokolade. Dort findet sich die sogenannte Vogelfutterbüste nun aufgetischt neben anderen einst essbaren oder kulinarisch inspirierten Exponaten, die einen Einblick in die Epoche von Fluxus und Nouveau Réalisme geben. In dieser Position wird die kleine Büste Teil einer großen kunstgeschichtlichen Entwicklung, sie wird zum Beispiel für das Absolutum der Gegenwartskunst, für die totale Entgrenzung von Material, von Gegenstand und künstlerischer Inszenierung.
Wer sich im Raum der Sammlung Cremer aufhält, merkt schnell, dass von hier an bis in die künstlerische Zukunft von undurchdringbaren Grenzen keine Rede mehr sein kann. Klar dringen die Klänge einer Videoinstallation aus dem Nebenraum herüber und tauchen den Raum in ein eigentümliches Klangbett. Die Melodie, hier noch nicht ganz zuzuordnen, wird zur Vorahnung und schafft eine Verbindung zu den anderen, noch zu erkundenden Ausstellungsräumen der Gegenwartskunst. Die Raumgrenzen werden akustisch überbrückt und in einen gemeinsamen Kontext gesetzt.
Werkimmanente Grenzen II. Wie war das nochmal mit dem Titel?
In dem Titel, der den Sockel der Büste ziert, verbirgt sich die Überwindung einer weiteren Grenze. Statt sich ausschließlich als Selbstporträt lesen zu lassen, beziehen sich Büste samt Titel über Gattungsgrenzen hinaus auf den literarischen Roman A Portrait of the Artist as a Young Man (1916) von James Joyce.f Den empfand Roth in weiten Teilen als zu kitschig. Sein (vermeintliches) Selbstporträt wird so zur klebrigen Literaturkritik. Im Rahmen dieser historisch perspektivierten Positionierung verweist es wiederum auf Roth zurück, der sich hier in einem Zug zu Kulturgeschichte verhält und sich in diese einschreibt. Die Vergänglichkeit des Materials der Literaturkritik wird zum Gleichnis für die Vergänglichkeit von Kunst. Zum Gleichnis von dem, was als schön, als gut empfunden wird. Sie wird zum Ausdruck dessen, was Roth wohl von dem sinnstiftenden Bedürfnis der Museumsinstitution halten mochte: alles, alles konservieren und bewahren zu wollen. So gelesen ist P.O.TH.A.A.VFB schokoladegewordene Institutionskritik und als solche in der Institution selbst prominent präsentiert.
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