August Mackes Modegeschäft (1913): Die Kunst der Flanerie

30. September 2017 - 2017 / Allgemein / bildtext

„EIN HEFT ist ein Heft ist ein zweites Heft“

Diesen Sommer erschien die zweite von drei geplanten Ausgaben von Ein Heft, einer Kooperation zwischen dem LWL-Museum für Kunst und Kultur in Münster und dem Masterstudiengang Kulturpoetik der Literatur und Medien der WWU. Unter dem Titel Von Grenzen und Lücken sind elf Beiträge zu verschiedenen Objekten der LWL-Sammlung entstanden, die den Besucher_innen eine neue Perspektive auf die Kunstwerke eröffnen soll. Der Stil der Essays ist intuitiv, assoziativ und persönlich, ohne die wissenschaftlich fundierte Grundlage aus den Augen zu verlieren.

In den kommenden Wochen werden wir einige Texte aus der zweiten Ausgabe von Ein Heft veröffentlichen. Den Anfang macht Mina mit einigen Überlegungen zu August Mackes Modegeschäft:

August Macke: Das Modegeschäft (1913) © LWL-Museum für Kunst und Kultur

In leuchtenden Farben zeichnet August Macke (1887-1914) mit dem Modegeschäft ein Bild der Moderne. Gesichtslose Damen flanieren an Geschäften entlang und richten ihre Blicke auf die Schaufenster. Sicher hinter Glas verborgen, breiten sich die Auslagen der Modegeschäfte aus. Elegante Mäntel und Kostüme, edle Roben und mit Federn besetzte Hüte gewähren den Vorübergehenden einen Blick auf die schillernde Mode- und Konsumwelt, die wie ein Gegenentwurf zu den grauen Asphalttönen der Realität erscheint.

Was August Macke hier bereits 1913 mit Ölfarbe auf die Leinwand brachte, beschäftigte wenig später auch den Philosophen und Kulturkritiker Walter Benjamin in seinem Passagen-Werk, an dem er von 1927 bis zu seinem Tod im Jahr 1940 arbeitete. Ausgangspunkt für sein literarisch-philosophisches Projekt waren die Ladenpassagen, die im frühen 19. Jahrhundert in Paris entstanden und schnell zur Wahlheimat des Flaneurs und der Passante – seiner weiblichen und weniger bekannten Entsprechung – wurden. Benjamin geht in seinen Thesen so weit zu behaupten, der Flaneur hätte sich ohne diese Passagen nicht (in dem Maße) entwickeln können.

Mit Zeit und Muße bewegen sich die Flanierenden alleine – das ist unumgänglich – durch die anonymen Massen der Großstadt. Sie lassen ihren Blick schweifen – über die Menschenmenge, über die Auslagen der Geschäfte, über die bunten Werbeplakate. Schaufenster für Schaufenster verlieren sie sich im Detail und in ihren Gedanken. Die verschiedenen Eindrücke überlagern sich – ein weißes Rauschen für den Geist. Das Lustwandeln bietet die Möglichkeit, sich sukzessiv aus der Monotonie der Realität zurückzuziehen.

Versinken der Flaneur und die Passante gerade nicht in ihrer träumerischen Selbstbezogenheit, widmen sie sich beim Umherspazieren dem Beobachten und Reflektieren. In dieser Gestalt wird die Flanerie auch zunehmend für den Markt interessant. Wie Benjamin feststellte, ist der Flaneur als Beobachter dieses Marktes tätig. Er hat keine Kaufabsichten, sondern genießt allein das genaue Betrachten der wechselnden Schaufensterszenen und ergibt sich im Glanz der schillernden Passagenwelt dem Versprechen des Konsumrauschs.

Die Passagen präsentieren die Großstadt – als räumliche Ausprägung der Moderne – in abgemilderter Form: Sie sind zwar Teil des öffentlichen Raumes und damit der Anonymität der Massen, bieten zugleich aber mehr Zurückgezogenheit und Privatheit als die offene Straße. In ihrer Funktion als Bindeglied zwischen öffentlichem und privatem Raum erinnern sie stark an die Arkadengänge des Münsteraner Prinzipalmarktes, die den Passagen in August Mackes Modegeschäft nicht unähnlich sind.

Die Bogengänge stellen einen Zwischenraum dar: Sie trennen und verbinden zugleich – die Geschäfte und die Straße, die Modewelt und die Lebenswirklichkeit der Konsument_innen, das Innen und das Außen. Die dualistische Funktion macht sich auch in ihrem Aufbau bemerkbar, der von Offenheit und Geschlossenheit gleichermaßen bestimmt wird. Anders als die Passagen bieten die Arkaden dem Flaneur und der Passante größere Freiheit. Sie ermöglichen einen fließenden Übergang zwischen der marktorientierten Konsumwelt der Geschäfte und der kontemplativen Außenwelt des Sich-Treiben-Lassens.

Mina bei der Präsentation von „EIN HEFT ist ein Heft ist ein zweites Heft“ am 10. Juli 2017 (© Kulturproleten)

Wie einst die Flanerie entführt auch Mackes Modegeschäft die Betrachter_innen in eine Welt des schönen Scheins. Das Ölgemälde ist wie die meisten seiner Werke in leuchtend bunten Farben gestaltet. Die einzelnen Flächen setzen sich klar voneinander ab und sind durch scharfe Kanten und spitze Winkel gezeichnet, was für die Zugehörigkeit zu Mackes ‚Reifem Stil‘ spricht. So wird auch die Geschlossenheit des Bildes aufgelöst. Der Säulenbogen im Hintergrund gibt Ausblick auf das, was hinter der Darstellung liegt, ohne es tatsächlich abzubilden. Er markiert damit die Grenze zwischen dem Bild und dem, was dahinter verborgen liegt.

Die Welt des Modegeschäfts hat nichts Tragisches, nichts Melancholisches an sich. Sie bildet den Zauberglanz einer Konsumwelt ab, in der sich die Flanierenden treiben lassen und sich der Kontemplation widmen können. Wie der Flaneur und die Passante beim Anblick der prächtig dekorierten Schaufenster und Auslagen können sich auch die Betrachter_innen im Rausch der Farben in ihren Gedanken verlieren und sich – wenn auch nur für einen kurzen Augenblick – aus der Realität zurückziehen. Das Modegeschäft befriedigt die Sehnsucht nach einer heilen Welt.

Im Kontext der Großstadt sind Flaneur und Passante Sehnsuchtsfiguren. Stets in Bewegung, aber ohne Ziel bilden sie eine Opposition zur Hektik und Eile des Alltags, die auf Zweckerfüllung und Zielorientierung ausgerichtet ist. Das Flanieren, das Bummeln durch Passagen, das Lustwandeln durch Arkaden bietet die Möglichkeit zur Entschleunigung und zum gedankenverlorenen Sich-Treiben-Lassen. Charles Baudelaire beschrieb das Flanieren nicht ohne Grund als einzig für die Moderne angemessene Wahrnehmungsweise. Der Flaneur und die Passante stehen für einen Ästhetizismus und Hedonismus und sollten im Kontext der Moderne, die von Leistungsorientierung, Ruhelosigkeit und Selbstoptimierung gekennzeichnet ist, als Held_innen gefeiert werden.

Das Modegeschäft von August Macke kann als Anlass genommen werden, sich der Kunst der Flanerie erneut zuzuwenden. Wie seinerzeit Walter Benjamin in Paris oder wie die Passanten auf dem Ölbild Mackes können auch wir uns der Ästhetik von Mode, Schaufenstern, Passagen und Arkaden hingeben und so den Anstrengungen der Realität entfliehen. Ziel des Flanierens ist aber nie allein die Flucht in die Illusion, sondern vielmehr der Rückzug in die eigene Gedankenwelt. Die Flanerie bildet einen Schnittpunkt zwischen der Außen- und Innenwelt: Die Flanierenden müssen als Individuen in der anonymen, öffentlichen Masse untergehen, um sich ihren Gedanken und ihrem Selbst in aller Privatheit stellen zu können.

Mina Janoschka
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