Forschung auf den Kopf gestellt – Zirkus für Akademiker

22. August 2017 - 2017 / soziotext

Wir sind ja auch irgendwie Generation Performance. Längst hat die flüchtige Kunstform momumentale, zeichenschwere Werke abgelöst – sie entlocken uns nur noch ein müdes Lächeln, dort wo einst ehrfürchtig der Kopf in den Nacken ging. Performance, Second-Hand, Urban Gardening, Couch-Surfing: Wir wollen wieder zurück, zurück zum Echten, Authentischen. Raus aus dem Konsum-Käfig, rein ins Leben, wo die Dinge wieder riechen und schmecken.

Wir begeben uns in Richtung des Schlosses, das als Verwaltungsgebäude der Uni dient und auf dessen Vorplatz zur Zeit ein Zirkuszelt steht. Beides verschwimmt plötzlich miteinander. Wir treffen dort Camilla Damkjaer, die einen heißen Tipp für uns hat. Und dabei auf dem Kopf steht.

Generation Performance zur Lecture Performance

Unser Ziel ist eine internationale Tagung von Zirkuswissenschaftler_innen, die lebensecht im Zirkuszelt des Cirque Bouffon vorm Schloss abgehalten wird. Nächster Programmpunkt ist eine Lecture Performance von der schwedischen Tanz- und Zirkuswissenschaftlerin Camilla Damkjaer: „The Circus Body Articulation“.

Das Genre der Lecture Performance ist nicht so jung und fancy, wie der erste Eindruck vielleicht vermuten ließe. Sieht man die künstlerisch dargebotene Lesung in der Traditionslinie einer Kunst des szenischen Vortrags, lässt sie sich bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgen – schon Hobbes wetterte etwa gegen den Experimentalvortrag1)siehe Peters, Sibylle (2011): Der Vortrag als Performance, S. 10 – die Auseinandersetzung mit der ‚Kunst des Vortrags‘ geht sogar bis in die Antike zurück. Das Format der Lecture Performance ist tief in dem Diskurs, der sich um die Grenzen von wissenschaftlicher und künstlerischer Forschung dreht, verankert. Gemeinsam ist den rar gesäten theoretischen Auseinandersetzungen mit Lecture Performances eine Definition als Hybridformat, welches die traditionellen Methoden des Vortragens, wie z.B. rhetorische Mittel, mit kreativen Elementen, wie der Inszenierung der eigenen Person sowie selbstreflexiven, diskursiven und performativen Aspekten, vermischt2)vgl. hierzu den Katalog zur gleichnamigen Ausstellung des Kölnischer Kunstverein (2009): Lecture Performances, die vom 24.10. bis 20.12.2009 stattgefunden hat, den Artikel von Kohout, Annekathrin (04.12.2014): Sprechen Sie Kunst? (2/7) oder Peters, Sibylle (2011): Der Vortrag als Performance..

Werfen wir die Seminar-Reader aus dem Fenster!

Lecture Performances sind ein Format künstlerischer Forschung. Zur Kategorisierung der Forschung in den und über die Künste liefert der Philosoph und Kunsttheoretiker Henk Borgdorff folgende Dreiteilung: Er unterscheidet eine Forschung über die Künste [research on the art], eine Forschung für die Künste [research for the arts] und eine Forschung in den Künsten [research in the arts]. Ersteres definiert er als Betrachtung der Künste aus theoretischer Distanz – zu ihr zählen die geistes- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen. Bei der Forschung für die Künste geht es um die Forschungsarbeit mit künstlerischen Materialien, die den Künsten zweckdienlich ist. Die künstlerische Forschung schließlich nimmt eine performative Innenperspektive ein und ist untrennbar von der Kunst als Praxis3)vgl. Borgdorff, Henk (2007): The debate on research in the arts, S. 5 f..

Das Paradoxon der künstlerischen Forschung liegt nicht nur in ihrer Begrifflichkeit, die alltagssprachlich widersprüchlich zueinander verstanden wird, sondern auch in jenem Dilemma, das dem Definitionsbestreben von künstlerischer Forschung innewohnt. Auf der einen Seite muss sich die künstlerische Forschung von etablierten wissenschaftlichen Disziplinen abgrenzen, um sich als eigenständiges Forschungsfeld zu legitimieren. Auf der anderen Seite muss künstlerische Forschung aber auch Merkmale aufweisen, die sie als Forschung identifizieren – und damit wieder Ähnlichkeiten zu etablierten Wissenschaften demonstrieren. Dieses Dilemma ist eng mit dem Wissensbegriff verknüpft, der im Rahmen der Debatte um künstlerische Forschung neu verhandelt wird.

Der ‚geläufige‘ Wissensbegriff orientiert sich an einem faktenbasierten, objektiven, versprachlichten Wissen. Künstlerische Forschung grenzt sich davon als ästhetische Erkenntnispraxis ab, die subjektives, nicht in Sprache fassbares, ‚implizites‘ Wissen produziert4)vgl. Jung, Eva-Maria (2016): Die Kunst des Wissens und das Wissen der Kunst. Zum empirischen Status der künstlerischen Forschung, S. 25 ff.. Demzufolge ist Zirkus selbst als Forschung etwa über Schwerkraft, Materialien und körperliche Grenzen zu betrachten. Wenn wir das Konzept künstlerischer Forschung ernst nehmen, werfen wir die Seminar-Reader aus dem Fenster, stellen uns auf den Kopf, machen Zirkus, schreiben Bücher, drehen Filme, stürzen uns in die Praxis und machen anstatt zu reden die Bibliothek zu unserer Werkstatt.

The Circus Body Articulation

Camilla Damkjaer betritt die Zirkus-Bühne. Sie hat raspelkurze Haare, ist schwarz und sportlich gekleidet, ungeschminkt. Ein ungewohntes Bild: Reduktion und Minimalismus in der Manege. Die wenigen Lampen, die das Geschehen insgesamt in ein dämmriges Licht hüllen, sind auf den Boden gerichtet, auf dem Damkjaer ihre Vortragspapiere im Kreis angeordnet hat.

Was folgt, ist beeindruckend und hat doch wenig mit einer zirzensischen Shownummer zu tun. Camilla Damkjaer wärmt sich auf, dehnt sich, zeigt im Kopfstand durch ihre zuckenden Beine, wie schwierig es ist, die Balance zu halten, versucht und scheitert, spricht außer Atem, als sie aus der Bewegung heraus zu ihrem ersten Vortragspapier gelangt. Von Anfang an ist klar: Hier wird keine Fassade zwischen der Artistin und den Zuschauenden errichtet – die Atmosphäre ist für eine Vortragssituation außergewöhnlich persönlich und intim.

Damkjaer schlägt in ihrer Lecture Performance im Bezug auf Handstandskunst einen Paradigmenwechsel vor. Anstatt der Praxis des Handstands eine publikumsorientierte, binäre Gelingen/Scheitern-Kategorisierung überzustülpen, versteht sie die Handstandskunst im Bezug auf Foucault als „Techniken des Selbst“5)vgl. hierzu: Foucault, Michel (2007): Ästhetik der Existenz – Schriften zur Lebenskunst.. Im Fokus ihres Vortrags steht dabei die Frage, was für eine Art von ‚neuer‘ Wahrnehmung der Handstand ermöglicht, die anders nicht zugänglich ist. Es geht ihr um die Empfindung von Nuancen der Körperhaltung und des Gleichgewichts, die im Handstand erfahrbar werden – oder eben als „Gap of Sensation“6)siehe: Damkjaer, Camilla (17.04.2015): The Circus Body Articulating. Lecture in the context of the International Conference „Semiotics of the Circus“ in cooperation with Cirque Bouffon. spürbar (noch) nicht spürbar und kontrollierbar sind. Sie sieht den Zirkus als physische, somatische Praxis im Sinne einer natürlichen und elementaren („echten und spürbaren“) Selbsterforschung, innerhalb der man sich mit den Grundzügen der menschlicher Existenz auseinandersetzt. In ihrem fast einstündigen Vortrag nimmt sie auch die körperlichen Voraussetzungen für den Handstand in den Blick, den Bewegungsablauf, die damit verbundenen neurologischen Prozesse, die gesellschaftlichen Implikationen und geht auf die mit dem Handbalancing einhergehenden Bedeutungszuschreibungen ein.

Zirkus statt Yoga

Gerade in Zeiten der ausgebuchten Yoga-Kurse macht Camilla Damkjaer uns einen attraktiven Vorschlag und lässt zwischen zwei Bereichen, die auf den ersten Blick unterschiedlicher wohl kaum sein könnten, Analogien erkennen: Zirkus, der für viele immer noch für trashigen Trommelwirbel und ‘das ganz große Drama’ im Glitzer-Dress steht, erscheint plötzlich vergleichbar mit Yoga – im Sinne von meditativ, erkenntnisfördernd, die körperliche Selbstwahrnehmung verfeinernd. Also vielleicht auch ein passendes Hobby für die Generation Performance? Aber wo geht das – Uni-Sport, VHS? Noch besser: zu Hause.

Camilla Damkjaer wirft den ‚Homemade Academic Circus‘ aus ihrem gleichnamigen Buch7)Damkjaer, Camilla (2015): Homemade Academic Circus. Idiosyncratically Embodied Explorations into Artistic Research and Circus Performance. in den Ring. Die Reflexion durch körperliche Bewegung nimmt in ihrem Forschungsansatz, der auf der Schwelle zwischen künstlerischer und akademischer Forschung seine Wurzel hat, einen ebenso großen Teil ein wie das Lesen und Schreiben. Zusammen entsteht eine Art Synergie. Hier die Anleitung dazu:

  • Man beginne für mehrere Jahre still sitzend mit Lesen und Studieren, am besten über Körper und Bewegung.
  • Erhalte eine akademische, forschungszentrierte Ausbildung, vorzugsweise mit einem Fokus auf Körper und Bewegung. Das theoretische Forschen führt zu noch mehr Still-Sitzen.
  • Beginne mit dem Einüben einer körperlichen Kunstform. Schnell wird nach Dankjaer spürbar, dass dadurch nicht nur der Stress der akademischen Forschung abgebaut wird, sondern auch die Art, über den Gegenstand nachzudenken und zu forschen in neue Richtungen getrieben wird.
  • In einem Moment des Adrenalin-Kicks bringe man beides zusammen – die Körperlichkeit in die Forschung, und die Forschung in die Körperlichkeit. Es geht um einen Transfer, an dessen Ende eine ganzheitlichere Forschung steht.

Sie spricht in diesem Kontext vom „Professional Circus Amateur“ und „Academic Freak“. Wir sind dazu aufgefordert, nicht mehr nur mit dem Kopf zu forschen – sondern auch mit dem kleinen Zeh.


Quellen

Borgdorff, Henk (2007). The debate on research in the arts. http://www.pol.gu.se/digitalAssets/1322/1322713_the_debate_on_research_in_the_arts.pdf

Damkjaer, Camilla (2015). Homemade Academic Circus. Idiosyncratically Embodied Explorations into Artistic Research and Circus Performance. Hunt Publishing.

Damkjaer, Camilla (17.04.2015). The Circus Body Articulating. Lecture in the context of the International Conference „Semiotics of the Circus“ in cooperation with Cirque Bouffon. WWU Münster. Verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=gMPLMTzdsgc [13.05.2017]

Foucault, Michel (2007): Ästhetik der Existenz – Schriften zur Lebenskunst. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Jung, Eva-Maria (2016). Die Kunst des Wissens und das Wissen der Kunst. Zum empirischen Status der künstlerischen Forschung. In: J. Siegmund (Hrsg.), Wie verändert sich Kunst, wenn man sie als Forschung versteht? (S. 23-43). Bielefeld: transcript.

Kohout, Annekathrin (04.12.2014). Sprechen Sie Kunst? (2/7) Verfügbar unter: http://www.artmagazin.de/szene/6901-rtkl-kunstslang-2-glossar-sprechen-sie-kunst-2-7 [15.05.2017]

Kölnischer Kunstverein (2009): Lecture Performances. Katalog anlässlich der gleichnamigen Ausstellung im Kölnischen Kunstverein vom 24.10. bis 20.12.2009. Berlin, Revolver Publishing.

Peters, Sibylle (2011): Der Vortrag als Performance. Bielefeld: transcript

 

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