Institution Zirkus
8. August 2017 - 2017 / soziotext
Rote Samtvorhänge, gedimmtes Licht, spektakuläre Akrobatiknummern, lustige Clowns. Es riecht nach Zuckerwatte und Heu. Kindheitserinnerungen an einen magischen Ort. So stellt man sich Zirkus vor. Bei all der Romantik wird jedoch schnell vergessen, dass auch der Zirkus eine Institution und somit ein wirtschaftliches Unternehmen ist, in dem jede Menge Geld steckt.
Internationaler Spitzenkandidat was den Marktwert angeht: der Cirque du Soleil.((Cirque du Soleil ist ein Beispiel für eine Zirkusinstitution. Weitere Beispiele im deutschen Raum sind Zirkus Roncalli.)) Seine Wurzeln hat das Millionenunternehmen jedoch auf der Straße. Jugendliche Straßenkünstler_innen bildeten das ursprüngliche Ensemble des Cirque du Soleil, der inzwischen so groß wie Disney ist.
Wie kulturelle Faktoren den Zirkus beeinflussen
Zirkus steht in engem Zusammenhang mit seinem kulturellen Umfeld. Dabei gilt es einerseits kulturelle Faktoren, die die Entstehung und Entwicklung von Zirkus bedingen, als auch andererseits die Einflussnahme des Zirkus als kulturschaffende Institution auf das jeweilige Umfeld mitzudenken.
Bedingt wurde die Entstehung des Zirkus während des 19. Jahrhunderts unter anderem durch die Industrialisierung und die damit einhergehenden Veränderungen. Technische Fortschritte, wie die Verbreitung der Elektrizität, konnte der Zirkus zum Beispiel für die Entwicklung neuer Beleuchtungsmöglichkeiten und -konzepte nutzen und sein Programm dem Publikum auf diese Weise kontinuierlich erfolgreich verkaufen. Gerade die 60er Jahre begründen eine Umbruchszeit, in der die bisher geltende Kulturauffassung in direktem Zusammenhang mit einem gesellschaftlichen Umdenken hinterfragt wurde. Bezeichnend war vor allem Milton Singers Vorstellung der ‘cultural performance’, nach der Kultur erst und gerade durch Performances manifestiert wird.
Bei Zirkusvorstellungen handelt es sich meist um ein Zusammenkommen verschiedenster kultureller Bereiche und um ein Wechselspiel der klassischen Zirkus-Disziplinen mit anderen Künsten. Zirkus befindet sich im Austausch mit Musik, Theater und Tanz und verortet sich damit selbst als Kunst neben diesen Disziplinen.
Einige Zirkusinstitutionen, wie der bereits erwähnte Cirque du Soleil aus Kanada, sind aus einer Tradition der Straßenkunst, der Festivals und der Café-Kultur entstanden. Der Zirkus bestand ursprünglich aus am Rande der Gesellschaft stehenden Jugendlichen, die an öffentlichen Orten Straßenkunst performt haben. Diese Form der Straßenkultur hat den Aufstieg einer Kunstform, dem Zirkus, bedingt, die heute den besonderen Charakter von Institutionen wie beispielsweise dem Cirque du Soleil ausmacht. Obwohl der Cirque du Soleil heute nicht mehr nur in einem mobilen Zelt aufführt, sondern neben dem Headquarter in Quebec auch an einigen anderen Orten((Feste Standorte, an denen Shows des Cirque du Soleil aufgeführt werden, sind unter anderem Las Vegas, New York, Orlando und Riviera Maya.)) einen festen Standort hat, werden in den Programmen noch häufig Rückbezüge zur Straßenkunst inszeniert.
Da der Zirkus zu diesem Zeitpunkt noch keine lange Historie aufweist, konnten die Künstler_innen ihn aktiv mitgestalten und hatten sehr viel Freiheit in ihrem Handeln und in Bezug auf das Einbringen neuer innovativer Ideen. Die bis dato kurze Geschichte des Zirkus bewirkte, dass Traditionen erst erfunden werden konnten, dass sich kaum an vorherige Erfolge orientiert werden konnte und dass die Künstler_innen so vor der Herausforderung standen alle Nummern aus eigenem kreativen Schaffen zu schöpfen. Gerade das bereits erwähnte Zusammenkommen der verschiedenen Künste im Zirkus macht ihn besonders. Heute bedient sich der Zirkus, bspw. der Cirque du Soleil auch bekannter Pop-Ikonen und ihrer Musik (wie z.B. den Beatles in dem Programm “The Beatles: Love” aus dem Jahr 2006 oder Michael Jackson in dem Programm “Michael Jackson: One” aus dem Jahr 2011 (vgl. https://www.cirquedusoleil.com/) ), um ein Programm zu entwickeln, das ein breites Publikum anspricht.
Rückblickend liegt der Erfolg des Cirque du Soleil aber auch in der Tatsache begründet, dass die Regierung Quebecs zu Zeiten seiner Entstehung von den Bürgern und Bürgerinnen dazu aufgefordert wurde, den kulturellen Sektor mehr zu unterstützen und zu fördern. Daraufhin erkannte sie Kunst als ein gesellschaftliches Projekt an und unterstützte den Zirkus. Zur Gründungszeit des Cirque du Soleil während der 90er Jahre profitiert er außerdem erheblich von der damals bestehenden sozio-ethnischen Vielfalt in Montreal, welche viel zur Lebendigkeit der kulturellen Szene der Stadt beigetragen hat. Aus diesen kulturellen Einflüssen konnte der Zirkus so einen Großteil seiner Inspiration schöpfen. Um sich nach dem Erfolg in Kanada auch weltweit zu behaupten, ging der Cirque du Soleil 1987 auch in die USA, um dort zu touren. Diese Expansion war zwar risikoreich, gelang aber und machte den Zirkus zu einer weltweit beliebten Attraktion.
Am Beispiel von Quebec und dem Cirque du Soleil lässt sich also zeigen, dass das kulturelle Umfeld bedeutende Faktoren für die Entwicklung des Zirkus aufweist. Die Zirkuswissenschaftlerinnen Deborah Leslie und Norma M. Rantisi nennen drei lokale Synergien, die für die Entwicklung von Zirkus von Bedeutung sind: „The vibrant tradition of street culture and festivals in Quebec, the lack of established circus conventions in the province, and the strength of related cultural sectors in Montreal such as dance, theatre, music, and television“((Leslia, Deborah & Rantisi, Norma M.: Creativity and Place in the Evolution of a Cultural Industry: The Case of Cirque du Soleil. In: Leroux, Louis Patrick & Batson, Charles: Cirque Global. Quebec’s expanding Circus boundaries. Montreal, Kingston, London & Chicago: McGill-Queen’s University Press, 2016.)). Die Kunstform Zirkus nimmt Ideen aus den umliegenden kulturellen Strömungen und Bereichen auf. Dabei kommt es zur gegenseitigen Beeinflussung und zur Bildung eines geschlossenen Kreises.
Cirque Noveau schafft etwas Neues
Ein leerer Raum wird durch die Praktiken des täglichen Lebens zu einem kulturellen Platz, denn sie geben ihm Bedeutung und Struktur. Auch die Institution Zirkus macht Orte zu Kontaktzonen und bereichert sie insofern, als dass sie Begegnungen und transnationalen Austausch zwischen verschiedensten Menschen fördert und die individuellen Horizonte durch das Erleben von Kunst erweitert. Durch den Zirkus, besonders den Cirque Nouveau, zu dem auch der Cirque du Soleil zu zählen ist, wird etwas Neues geschaffen. Der Zirkus reichert seine Umgebung kulturell an und lässt sie für die Bewohner und Bewohnerinnen des Ortes, aber auch für Touristen und Touristinnen attraktiver wirken.
Es entstehen daher symbiotische Beziehungen zwischen dem jeweiligen Ort und den dort entwickelten kulturellen Produkten wie z.B. Waren oder Dienstleistungen. Die Initiator_innen dieser kulturellen Produkte bedienen sich erst der ortsspezifischen Ressourcen, beispielsweise der Infrastruktur oder der ansässigen Künstler_innen, um damit die Basis für die jeweiligen Wettbewerbsvorteile der Institution zu schaffen.
Der Erfolg von kreativen Milieus wie dem Zirkus hängt zu einem Großteil von ihrer Fähigkeit ab, eine ‘kritische Infrastruktur’ zu entwickeln, welche die Risiken und Unsicherheiten kultureller Phänomene aushandeln kann. Hierbei muss zudem ein angenehmes Arbeitsklima für die Künstler_innen und Mitarbeiter_innen geschaffen werden, sodass sich Arbeiter_innen aus anderen (kreativen) Tätigkeitsbereichen angesprochen fühlen und angezogen werden. Gelingen kann dies durch die richtige Kombination von räumlichen, fachspezifischen und kulturellen Qualitäten, die dann wiederum Kontexte des Vertrauens, der Sozialisierung, des Wissens, der Inspiration, des Austauschs und der zunehmenden Innovation entstehen lassen.
Durch die Integration des Zirkus in das öffentliche, staatliche Leben hat eine Etablierung der Institution Zirkus begonnen, die ihn heute auf eine Stufe mit anderen zeitgenössischen kulturellen Phänomenen und Unterhaltungsformen stellt. Daraus folgt zudem die akademische Auseinandersetzung mit dieser Kunstform, die ihre Auswirkungen auf soziologische Verhältnisse und die mit ihr verbundene Schaffung gesellschaftlicher Strukturen untersucht. Zwar kann noch nicht von einer homogenen internationalen Entwicklung des Zirkus gesprochen werden, dennoch deuten die Verbreitung des (neuen) Zirkus und das steigende globale Interesse daran darauf hin, dass Zirkusinstitutionen zukünftig weltweit wachsen und sich einen festen Platz in der internationalen Kunstszene schaffen werden.
Die Entwicklung der zusammengeführten Straßenkunst zu institutionellen Unternehmen setzt in der kurzen Zirkusgeschichte schon früh ein. In Frankreich und England etablierten Philip Astley und Antoine Franconi den Zirkus als Institution, der als solche bereits im frühen 19. Jahrhundert eine gesellschaftliche sowie künstlerische Rolle einnahm. In der Historie des Zirkus im deutschen Raum lässt sich als Pionier etwa Ernst Renz anbringen. Zwar ist eine globale Betrachtung der Entwicklung des Zirkus nicht uneingeschränkt möglich, doch lässt sich für den Startpunkt der Institutionalisierung der Zirkuskunst festmachen, dass in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine weltweite Begründung von festen Häusern und Schulen stattfand. Die weiterführende Entwicklung des Genres Zirkus lässt darauf schließen, dass sowohl die Zirkustechniken als auch die gesamte Institution stets bereit waren, sich zeitgenössischen Strömungen zu öffnen.
Wie der Zirkus die kulturelle Umgebung beeinflusst
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich das Verständnis des Kulturbegriffs und speziell das der darstellenden Kunst verändert. Es fand ein Paradigmenwechsel statt, indem die Macht der literarischen Textvorlage und des Wortes als einziges Kultur konstruierendes Mittel gebrochen wurde. Körpersprache und mit ihr der performative Darstellungsakt wurden als gleichwertiges künstlerisches Ausdrucksmittel anerkannt und traten vermehrt in den Vordergrund. Darauf aufbauend hat sich in den letzten Jahren die 200 Jahre alte Idee der Institution Zirkus an die moderne Zeit angepasst. Nach einer gewissen Zeit der Etablierung des Zirkus in Städten wurde dieser als nationale Institution angesehen und damit ein fester Bestandteil des städtischen Raumes. Durch den Status ,nationale Institution’ wiederum wurde der Zirkus von genossenschaftlichen Sponsoren gefördert und erhielt dadurch die Möglichkeit, sich noch weiter zu etablieren. Der Cirque du Soleil und auch andere erfolgreiche Zirkusinstitutionen sind durch ihren Status als Unternehmen genötigt, nun auch Kenntnisse der sie betreffenden Gesetzeslage zu haben, um ihre künstlerische Betätigung weiterhin erfolgreich ausführen zu können.
Der Cirque du Soleil steht außerdem in enger Verbindung mit der École Nationale de cirque, einer staatlich anerkannten Zirkusschule in Montréal, wodurch der Zirkus auch bildungswissenschaftliche Verantwortung trägt und vom Staat als Bildungsträger anerkannt wird. Außerdem ist aus dem Cirque du Soleil wiederum der Verband En Piste entstanden, welcher sich für die Förderung des Zusammenkommens der internationalen Zirkus-Community einsetzt. En Piste betreibt Lobbyismus, indem es die Interessen der Zirkusgemeinschaft vertritt, um mehr Aufmerksamkeit und Unterstützung von der Regierung zu bekommen.
Aufgrund der neuen Betrachtung des Kulturbegriffs, welche die Trennung zwischen Hoch- und Populärkultur aufheben will, rückte der Zirkus vermehrt in das Sichtfeld von Kulturschaffenden und -besprechenden. Die neue Auseinandersetzung mit der Kunstform Zirkus zog nach sich, dass das Metier institutionell geöffnet wurde.
Im Falle des Cirque du Soleil findet man somit heute eine wirtschaftlich agierende Institution, die selber Kunst und somit Kultur schafft und produziert. Darüber hinaus lässt sich die These aufstellen, dass die häufig wahrgenommene Einzigartigkeit einer Zirkuserfahrung kaum auf den vorgestellten Künsten basiert, die in isolierter Form auch an anderen Orten, wie zum Beispiel im Theater, gesehen werden können, sondern in ihrer institutionalisierten Zusammenstellung durch den Zirkus selbst. Zirzensische Texte, Zirkusvorstellungen, werden innerhalb ihres Kontextes gelesen, der Institution Zirkus, welche in der Gesellschaft verankert ist. Für die Leser zirzensischer Texte bedeutet dies, dass die Paradigmen und Syntagmen im kontextuellen Zusammenhang mit der Institution Zirkus stehen. Zirkus kann als Gesamtkunstwerk begriffen werden.
Der Zirkus hat mit der Zeit begonnen, seine eigenen Räume und Wirkungsbereiche auszuweiten. Zudem erlangen die Zirkusartisten und -artistinnen durch Zirkusschulen eine ganz andere Legitimität, die sich auf den gesamten Zirkus überträgt und dessen Stellenwert in der Gesellschaft festigt. So werden aus Straßenartist_innen ‘studierte Künstler_innen’, die vergleichbar mit Theaterschauspieler_innen und Musiker_innen Teil der Kulturproduktion werden. Zirkus etabliert sich also zunehmend als anerkannte Institution des Kulturbetriebs.
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