UpSideDown – von der Forschung um den Zirkus
25. Juni 2017 - 2017 / Allgemein / bildtext / soziotext
Titelfoto: © Christian Trick
Manege frei für das Phänomen ‘Zirkus’
Wenn wir an den Zirkus denken, erinnern wir uns meist an unsere Kindheit: Wie wir an der Hand unserer Eltern oder Großeltern das riesige Zirkuszelt betreten, auf den schier endlos wirkenden Rängen Platz genommen und unseren Blick auf die Manege gerichtet haben. Wir denken an den süßen Geruch von Popcorn, an spektakuläre Akrobatiknummern, an alberne Clowns, an wilde Tiere und an eine ganz besondere, surreal wirkende Atmosphäre.
Dieses nostalgische Bild vom Zirkus, das wir in unseren Köpfen haben, wird mit zunehmendem Alter weitestgehend durch mediale Repräsentationsformen aufrechterhalten, nicht mehr durch unsere eigenen Erfahrungen. Filme wie Tim Burtons Big Fish (2003) oder Romane wie The Night Circus von Erin Morgenstern bedienen sich klassischer Zirkus-Motive und konservieren damit die antiquierten Vorstellungen, die wir haben. Ähnlich verfährt auch die russische Band Leningrad in ihrem Song Kolschik, der vor wenigen Monaten auch in Deutschland Wellen schlug.
So fasziniert wir in Kindertagen noch von Zirkusaufführungen waren, so sehr nimmt die Begeisterung im Jugend- und Erwachsenenalter oft ab. Grund dafür ist nicht nur die Vorstellung, der Zirkus sei vor allem etwas für Kinder, sondern auch die wachsende Kritik, die im Kontext der (Wild)Tierdressuren laut wird. Diese – vor allem aus Tierrechtsperspektive – geübte Kritik ist jedoch auch nur ein Symptom, ein Ausdruck eines tiefergehenden Problems: Der Zirkus scheint nicht mehr zeitgemäß zu sein.
Die fehlende Aktualität, die dem Zirkus bewusst oder unbewusst attestiert wird, ist jedoch nichts anderes als eine Fehleinschätzung: Der Zirkus ist nicht von Stillstand geprägt, sondern befindet sich in einem stetigen Wandel. Auch wenn die drei traditionellen zirzensischen Disziplinen – Akrobatik, Objektmanipulation und Clownerie – auch heute noch Gültigkeit haben, so verändern sich doch die Kontexte, in denen sie eingebettet sind.
Zirkusvorstellungen sind heute so frei wie noch nie: Sie können in einem klassischen Zelt zu Hause sein, finden aber auch auf (z.B. Theater)Bühnen statt; sie können ein traditionelles Nummernprogramm haben, oder freiere Formen der dramaturgischen Gestaltung verfolgen und die narrativen Aspekte stärken. Anstatt eine Nummer mehr oder minder isoliert nach der anderen zu zeigen, erzählen einige Kompanien mit ihrem Programm eine Geschichte, in der die verschiedenen Einlagen in Beziehung zueinander stehen. Die Liste der Möglichkeiten, die der Zirkus hat, ließe sich an dieser Stelle noch eine ganze Weile weiterführen.
Was daraus resultiert, ist eine Unterscheidung zwischen dem ‘Traditionellen Zirkus’ und dem ‘Neuen Zirkus’ (Nouveau Cirque), die sich zwar noch viel weiter ausdifferenzieren ließe, die aber für Ottonormalkonsument_innen, bzw. einfach nicht Zirkuswissenschaftler_innen, erst einmal ausreichend ist. Grundsätzlich und sehr verallgemeinernd lässt sich sagen, dass Dinge, die für den Traditionellen Zirkus obligatorisch sind, für den Nouveau Cirque nicht mehr gelten (müssen): Hinter den Kompanien des Nouveau Cirque stecken so zum Beispiel meist keine Zirkusfamilien mehr, sondern eigens für die Produktion angestellte Zirkuskünstler_innen. Die Figur des Zirkusdirektors kann auch von einer Frau übernommen werden oder wird ganz ausgespart. Auf tierische Unterstützung wird ganz verzichtet.
Eine Ausprägung dieser neueren Form des Zirkusses ist der Cirque Bouffon, der aktuell auf dem Schlossplatz in Münster Quartier bezogen hat. Mit seiner Show Lunatique entführt der Cirque Bouffon in eine magische Traumwelt und lotet dabei die Grenzen der zirzensischen Künste aus. Unter der Leitung des Regisseurs Frédéric Zipperlin lädt das internationale Künstler_innenensemble noch bis zum 02. Juli zu einem Mix aus Akrobatik, Körperkunst, Komik und Musik – kurzum: zu einer Zirkusaufführung – ein.
Von der Manege in die Wissenschaft oder andersherum
Das Schöne an dem, was wir als Studierende der Kulturpoetik tun, ist, dass wir uns auch mit solchen kulturellen Phänomenen auf text- sowie kulturwissenschaftlicher Ebene auseinandersetzen können. Zum Beispiel wird die zirzensische Performance in der Zirkussemiotik als Text verstanden, der lesbar und dessen Bedeutung entschlüsselbar ist. Die zirzensische Forschung im kulturpoetischen Sinne betrachtet das Spektakel in und um die Manege auch als Text. Als solcher besteht er aus Elementen (Zeichen), welche in ihrem Zusammenspiel Bedeutung ergeben. Der Pionier der Zirkussemiotik, Paul Bouissac, formuliert das so: “A circus act is the performance of a set of rhetorically ordered ‘actions’ which like language, can be performative because ‘they accomplish what they refer to.’”1)Gefunden in: Tait, Peta: Circus Bodies. Cultural identity in serial performance. Ozon, London and New York 2005. S. 5.
Anders als im Literarischen entfalten sich die Zeichen des zirzensischen, den Gesetzen der Performance folgenden Texts, in den unterschiedlichsten Dimensionen. Die sind zum einen sensorisch zu verstehen: Neben der Show selbst, gehört beispielsweise der Geruch, der für Zirkus so typisch sein kann, ebenso dazu, wie die meist speziell komponierte Musik. Darüber hinaus fasst der Begriff der Dimensionen auch die Ausnutzung des Raums, die im Zirkus eine besondere Rolle spielt. Nicht nur, dass sich die Aufführung in allen drei Dimensionen abspielt, der Raum der Performance selbst wird in der Regel durch die traditionelle Ordnung aus Zelt, Manege und Sitzreihen strukturiert. Wie so oft wird auch diese Regel durch Ausnahmen bestätigt: Auch eine Bühne ist als Ort der Aufführung denkbar, womit ersichtlich wird: Definitionen was gegeben sein muss um es mit einem spezifisch zirzensischen Text zu tun zu haben, sind schwer zu treffen und noch schwerer zu halten.
Um es an dieser Stelle überschaubar zu halten, bleiben wir erst einmal bei der traditionellen Raumstruktur, die oft auch im Nouveau Cirque gegeben ist: So findet die Zirkusperformance also in der besagten Manege am Boden statt, das Publikum sitzt auf den Rängen, die kreisförmig um das Geschehen angeordnet sind. Was ursprünglich als demokratischste und sozialste Form des Zuschauerraums intendiert war, hat tatsächlich das höchstmögliche Maß an subjektiver Wahrnehmung durch jede_n einzelne_n Zuschauer_in zur Folge: Von jedem Platz aus ergibt sich eine absolut, wenn auch minimale, individuelle Perspektive. Niemand sieht genau das, was die anderen sehen. Hier bietet sich beispielhaft ein Ansatz an, den zu untersuchen für Textwissenschaftler_innen interessant wäre: Was geschieht angesichts solch einer Individualität in der Rezeptionsperspektive – Was macht sie mit dem zu untersuchenden Text?
Doch nicht nur, was in dem Zelt geschieht, kann für die Analyse interessant sein. Der scheinbar geschlossene Raum des Zirkuszelts ist in unmittelbarer Beziehung zu dem ihn umgebenden zu verstehen. Da der Zirkus sein Zelt in den verschiedensten Kulturkreisen aufschlägt, muss die Performance sich einer Sprache bedienen, die jenseits nationaler oder topografischer Begrenzungen stattfinden muss. Denkt man an klassische Artistik und Clownerie, scheint das erst einmal gar nicht so kompliziert, schließlich handelt es sich hierbei um körperliche Performances und scheinbar geschlossene Systeme. Doch auch wenn im traditionell aufgestellten Zirkus kaum Aussagen getroffen werden, die über das System ‘Zirkus’ hinaus gehen, die beispielsweise explizit politischer oder sozialkritischer Natur sind, referiert schon hier der Sinn auf bestimmtes kulturelles Wissen oder spezifische Wertestrukturen. Daraus ergibt sich beispielsweise wann, wo und warum der Humor des Clowns funktioniert. Umso wichtiger wird das Verständnis von Referenzen zum kulturellen Kontext, da der zeitgenössische Zirkus durchaus eine wachsende Tendenz zum Politischen aufweist. Der schwedische Cirkus Cirkör zum Beispiel widmete sich in seinen Shows Borders (2015) und Limits (2016) dem Diskurs um Fluchtbewegungen.
LIMITS TRAILER (3min) from LFA FILM on Vimeo.
Eine Betrachtung des Zirkus als Text unter Texten mag uns, die wir aus der Kulturpoetik stammen, noch relativ naheliegen. Doch stellt sie im Rahmen des Projekts Zirkus | Wissenschaft2)Das 2015 gegründete Projekt ‚Zirkus | Wissenschaft‘ strebt danach, Zirkus als kulturwissenschaftliches Untersuchungsobjekt in der universitären Forschung und Lehre zu verankern. Die WWU soll hierbei zu einem international etablierten Zentrum der – noch sehr jungen – zirzensischen Forschung werden. lediglich einen methodischen Ansatz unter vielen dar. Darüber hinaus werden hier Perspektiven vertreten, die aus der Theater- und der Tanzwissenschaft stammen, von medizinischen zu soziologischen Ansätzen reichen oder Geschichtsforschung ebenso berücksichtigen wie eine kulturwissenschaftliche Herangehensweise.
In diesem Sinne sind nun schon zum zweiten Mal 25 Forscher_innen aus 13 Ländern dem Ruf aus Münster gefolgt,3)vertreten sind: Kanada, Australien, USA, Tschechien, Deutschland, Dänemark, Großbritannien, Finnland, Belgien, Italien, Schweden, Österreich, Niederlande um im Rahmen der internationalen Zirkuskonferenz unter dem Titel UpSideDown – Circus and Space vom 28. bis zum 30.6. im Zelt des Cirque Bouffon zu referieren und zu debattieren. Der Titel der Tagung stellt dabei mehr dar, als die Suggestion waghalsiger Artistik. Mit UpSideDown werden Räume verkehrt und Grenzen durchbrochen: Eine wissenschaftliche Konferenz im Zirkuszelt, bei der es nicht unwahrscheinlich ist, dass selbst die Referent_innen im wahrsten Sinne des Wortes Kopf stehen.
Camilla Damkjaer im Rahmen von “Semiotics of the Circus”, Münster 2015
Forschung trifft auf Emphase und ringt mit ihr, wie in kaum einer anderen Disziplin, wenn auch gestandene Wissenschaftler_innen den Seiltanz zwischen akademischem Anspruch und kindlicher Begeisterung wagen.
Der thematische Fokus setzt sich in diesem Jahr aus der Beziehung des Zirkus zu Aufführungsraum, Raumbewegungen und Kulturellen Räumen zusammen. Der Kulturpoetische Blickwinkel kommt auch hier natürlich nicht von ungefähr: Denn auf die Beine gestellt wird das Spektakel von Franziska Trapp, Doktorandin der Graduate School Practices of Literature an der WWU Münster und ehemalige Studierende der Kulturpoetik (ebenfalls dort). Begleitend dazu leitet sie ein Seminar am Germanistischen Institut der WWU, dessen Studierende nicht nur auf theoretischer Ebene mit den Inhalten der Tagung vertraut, sondern auch tatkräftig an deren Ablauf beteiligt sind. Was im Zuge von UpSideDown – Circus and Space geschehen wird, werden sie im Anschluss an die Tagung nach und nach mit uns und euch im Zuge einer neuen, kleinen Beitragsreihe teilen. Wir freuen uns sehr darüber, wissenschaftlich interessiert und absolut emphatisch. Denn auch wenn wir bei allem theoretischen Geschwurbel noch nicht genau wissen, was nächste Woche im Cirque Bouffon geschehen wird – wenn es um Zirkus geht, ist gewiss: Es wird anders, es wird bunt und ganz sicher überraschend.
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