„Einsamkeit und Sex und Mitleid“ – eine aberwitzige Hymne auf das selbstbestimmte ‚Ich‘

9. Mai 2017 - Allgemein

Und jedem einzelnen Teil bleibe am Ende nur das Kreisen um sich selbst, mit diesem Credo startet der Film „Einsamkeit und Sex und Mitleid“ von Lars Montag. Die Zuschauenden werden dabei Zeuge der brutalen Zerstörung zweier blauäugiger Porzellankätzchen mit einem eisernen Baseballschläger – die Verstörung ist bereits hier programmatisch angelegt.

Der Film basiert auf dem 2009 erschienenen, gleichnamigen Roman von Helmut Krausser, der seinerzeit eher durchwachsene Kritiken1)Vgl.: https://www.perlentaucher.de/buch/helmut-krausser/einsamkeit-und-sex-und-mitleid.html erhielt: Es wurde zwar seine Virtuosität, seine gelegentliche Situationskomik und die konsequente Erzählstimme gelobt, gleichzeitig aber seine Schemenhaftigkeit und die Überspitztheit, die zu einem Mangel an Authentizität führe, kritisiert. Vergangene Woche startete die bereits 2009 von Frank Schäfer im Tagesspiegel imaginierte Verfilmung in den deutschen Kinos.

Weniger ist manchmal mehr

Sowohl Buch als auch Film sind nach der „Short-Cuts-Erzählung“ strukturiert: In kurzen episodenartigen Einblicken werden die Geschichten der Charaktere wild durchmengt erzählt und dabei lose miteinander verknüpft. Johnny, der in Swentja verliebt ist, geht plötzlich ausgerechnet zu Vivien, um bei ihr gegen Bezahlung seine Unschuld zu verlieren, während Vivien ihrerseits durch beiläufige Umstände mit Janine, der Künstlerin (im Roman: Tänzerin), bekannt ist. Es ergibt sich ein Geflecht, dass nicht nur die Großstadt als Dorf erscheinen, sondern auch bei einer Überstrapazierung der Zufälle, die Gemachtheit und Authentizität des Werks preisgeben könnte.

Das Team um Lars Montag und Helmut Krausser (der auch als Drehbuchautor an der Verfilmung seines Romans beteiligt war) war sich dessen wohl bewusst und hat daher nicht nur einige Charaktere des Romans von der Leinwand getilgt, sondern auch die Kneipe Nachtmar, als das Sammelbecken der schicksalsgebeutelten Figuren, gestrichen. Manches, wie die Figur des in Berlin herumirrenden Propheten Jesaja, konnte durch simple visuelle Darstellungen ersetzt werden. Anderes, wie die Figuren einer Sarah Stern oder eines Ümal Nurbekoglu wurden mit anderen Charakteren fusioniert und den Zuschauer_innen somit die Arbeit der Zuordnung weiterer Personen erspart. Der Erzählstrang um Helmut, Sibylle und die Punks wurde hingegen ersatzlos gestrichen – zum Glück. Denn während man sich beim Lesen des Romans immer wieder dabei erwischte, zu fragen „Wer war Julia nochmal?“, hat es die Reduktion des Plots geschafft, ein leichter verfolgbares Seherlebnis zu erschaffen, ohne dabei die Handlung des Romans großartig zu verändern.

Notwenigkeit der Aktualisierung des Geschehens

Die Reduktion und Konzentration der Handlung ermöglichten dann auch eine intensivere Beschäftigung mit den verbliebenen Figuren. Der emotionalen Verfassung des ehemaligen Lehrers Ekki wird hier deutlich mehr Raum zur Entwicklung gegeben, ebenso wie der Entwicklung des Außenseiters Johnny. Insgesamt erscheint die Storyline klarer und nicht mehr so forciert, was auch mit der Reduktion der Frequenz der Szenenwechsel zu tun hat. So wurden beispielsweise die Besuche Mahmuds bei Swentja durch zeitgemäße WhatsApp-Konversationen eingetauscht, die es ebenso erlauben, die schwierige pubertäre Liebesgeschichte glaubwürdig darzustellen, aber keinen Orts-/Szenenwechsel benötigen.

Das Erscheinen des Romans mag erst acht Jahre her sein, dennoch spricht die Berücksichtigung der Digitalisierung Bände für die Notwendigkeit einer zeitgemäßen Anpassung des Stoffes. So wurde dann auch der Erzählstrang um Dr. Thomas Stern und seine Sekretärin Carla in ein anderes Milieu verlegt. Der Polizist Thomas Stern wird im Film zum unsympathischen ‚Rattenfänger‘, der versucht, seine Kollegin an sich zu binden, indem er mithilfe rassistischer Zuschreibungen Angst bei ihr schürt. Die Befassung mit rechtspopulistischem Gedankengut und wie es sich verbreitet, scheint hier auf privater Ebene seinen Ausdruck gefunden zu haben.

Der Unfall, bei dem man nicht wegsehen kann

Es soll hier nicht weiter auf die Handlung eingegangen werden: Wer mit wem schläft, sich verprügelt oder aber entführt wird, sich verliebt oder verliert, ist, wie bereits dem Buch attestiert wurde, virtuos und sehr unterhaltsam miteinander verstrickt worden. Entscheidend für die Berücksichtigung des Films auf kulturproleten.de war zuallererst der mögliche Vergleich mit dem Roman, dann aber gerade nach einem zweiten Besuch im Kino auch die Gemachtheit des Films. Denn während die Handlung gestrafft, aktualisiert und damit noch um einiges verbessert werden konnte, schafft es der Film zusätzlich durch eine großartige Bildsprache, durch die Verknüpfung von auditiven und visuellen Effekten und durch die Qualität der (meisten) Schauspieler_innen ein zugleich höchst schmerzvolles wie auch vergnügliches Kinoerlebnis zu kreieren.

Wie bereits einleitend erwähnt, tut es auch weh, psychisch wie physisch, den schicksalsgebeutelten Charakteren bei ihrer Odyssee durch die Großstadt zuzusehen. Schneidet sich der verkappte schwule Familienvater (auch eine Neuerung des Films) beim Rasieren im Intimbereich oder wird er beim lustlosen (und genauso wird er durch die Off-Stimme angekündigt) Sex mit seiner Ehefrau gezeigt, der_die Zuschauer_in leidet immer etwas mit und hofft dann, dass es nicht mehr schlimmer kommen kann. Das liegt vor allem an den überzeugenden Darbietungen der einzelnen Schauspieler_innen. Denn auch wenn die Extremen der emotionalen wie rationalen Bandbreite einzelner Figuren kurz vor der Unmöglichkeit der Darstellung liegen, schaffen sie es (fast) immer, das Spannungsverhältnis ihrer Rollen plausibel und authentisch aufrecht zu halten.

Die sarkastische und distanzierte Erzählstimme aus dem Roman wurde ersetzt durch Kommentare der anderen Figuren, die mal erläuternd sind, mal Einblicke ins Innenleben der Figuren geben. Das nimmt dem Film zwar die süße Bitterkeit des Roman-Erzählers, tut dies aber ohne Verluste, da die Handlungsgestaltung genug tragische Verstrickungen bietet, um diesen Aspekt vollends zu erfüllen.

Vom ‚Wir‘ zum ‚Ich‘

Die kleinen schauspielerischen Unzulässigkeiten, die sich auch aufgrund der angelegten Charaktere ergeben, werden durch ein Setting verschmerzbar gemacht, das ästhetisch beglückt. Wenn bei der Beichte von Johnny mit der Regulierung der Hintergrundunschärfe ein Gefühl der Haltlosigkeit erzeugt wird, wenn der aggressive Ex-Lehrer von der Kamera durch seine Messi-Wohnung begleitet wird oder wenn Vincent und Vivien in ihrer Besessenheit für die Farbe Weiß in ihrer gemeinsamen Wohnung völlig reduziert und konzentriert wahrgenommen werden müssen, dann macht Kino Spaß.

Die Vogelschwärme, welche den gesamten Film über immer wieder durch die Lüfte segeln, dienen als Metapher für die Figuren in dieser Großstadt: Sie sind alle Teil dieser Menschenmenge, der Bewohner, sind miteinander verbunden – sei es auf Ebene des Plots oder aber durch Schnitte oder Überleitungen, wie eine Wiederholung der letzten Phrase aus der vorhergegangenen Szene. Sie brauchen einander zur Orientierung, brauchen aber auch die Distanz zueinander und bleiben so Individuen und sich selbst am nächsten. Eine versuchte Annäherung klappt (Mahmud und Swentja), eine andere (Ekki und Robert) – wie sollte es anders sein – scheitert tragisch. Wenn Julia sich eine Fickmaschine zur selbstbestimmten sexuellen Befriedigung anschafft, ist das nur eine Form der naturgemäßen Egozentrik, die nach der wilden Reise durch die Einsamkeit der Großstädter, ihrer sexuellen Ausflucht und dem daraus resultierende Mitleid als Fazit des Films übrig bleibt. Es ist daher nicht verwunderlich, dass der Film schließlich mit einem Abgesang auf das Kollektiv endet: mit dem auf die erste Person Singular („Ich“) umgetexteten Song „Du“ von Peter Maffay.

„Einsamkeit und Sex und Mitleid“ läuft ab dem 04.05. im Cinema (Kurbelkiste) in Münster und wird von dem Rezensenten uneingeschränkt als höchst unterhaltsame Komödie weiterempfohlen.

Jürgen Gabel

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