Toni Erdmann, der Trickster

23. Februar 2017 - 2017 / bildtext

Die Feuilletons der Zeitungen beschreiben das Werk „Toni Erdmann“ von Maren Ade als Tragikomödie.

Der wesentliche Unterschied zwischen Tragik und Komik ist, dass das, was geschieht, im Tragischen ein Leiden, im Komischen dagegen eine Torheit ist. (Meyers Konversationslexikon)

Wenn ein Einzelner schuldlos in ein Gesamtgeschick verwickelt wird und untergeht, während er es fördert, sprechen wir, glaube ich, von Tragik. (Arnold Zweig, Einsetzung 430)

Ines Conradi (Sandra Hüller) ist nicht wirklich eine tragische Figur, ihr fehlt das Schuldlose und das Zufällige. Sie hat sich ihren Beruf als Unternehmensberaterin freiwillig ausgesucht. Er verspricht ein üppiges Einkommen, sie muss dafür, geradezu faustisch, ihre Seele verkaufen. Denn das Resultat ihrer Tätigkeit ist nicht folgerichtig ihr eigenes Leid, sondern das von zahlreichen Arbeiter_innen, die aufgrund der Rationalisierungen ihrer Funktion als Beraterin in die Arbeitslosigkeit entlassen werden.

Für ihr Umfeld hält Ines den Schein der erfolgreichen, im Dauerstress befindlichen Businessfrau aufrecht. Sie hat sich einen Panzer zugelegt und ihre Gefühle abgestellt. In diesem Bewusstsein ist ihr Konflikt für andere nicht sichtbar – sie selbst verdrängt ihn und funktioniert wie ihre Teamkolleg_innen nach den Konventionen der Beratungsbranche. Und die sind brutal. Es heißt mitschwimmen und noch weiter nach oben kommen. Sie agiert in einem Konglomerat aus Feminismus (ihren Kolleginnen gegenüber), aus der Leugnung desselben (ihrem Teamchef gegenüber) und aus Opportunismus (ihrem Auftraggeber gegenüber), immer, um sich Lob und Anerkennung zu erwerben.

Ines‘ Assistentin Anca erklärt im Film, worum es geht: „Es geht um Performance“, nicht um Inhalte, nicht um Ergebnisse. Ines erläutert mit der Inbrunst der Überzeugung ihrem Teamleiter die drei Optionen, die sie kurz vorher performativ einstudiert hat. Es ist offensichtlich, dass diese Optionen am vorangegangenen, geselligen Abend aufgrund der Reaktionen Hennebergs, des Auftraggebers, entwickelt worden sind. Im Team geht es in erster Linie darum, als Beraterin zu glänzen, konkurrierende Ansichten an die Seite zu drängen.

(Der Unternehmensberater Roland Berger, es sei hier auf das Interview in der ZEIT 4/2017 verwiesen, sieht diesen Film durch seine professionelle Brille und kritisiert die dargestellten Verhaltensmuster. Maren Ade ging es aber nicht um die economical correctness, sondern um die Darstellung der inneren Zerrissenheit der Protagonistin.)

In diesen Kosmos aus Performancezwang und aus der Befürchtung heraus, seine Tochter verliert sich in eine Wirklichkeit, die ihrer Persönlichkeit nicht zuträglich ist, dringt Winfried Conradi (Peter Simonischek), Ines‘ Vater, ein. Wie ein Fremder aus einer anderen Galaxie, wie ein Bär auf der Suche nach Honig, sticht er in dieses Wespennest. Winfried liebt es, sich zu verwandeln, lebt dann in einer Parallelwelt, in der er andere Identitäten annimmt.
Als „Toni Erdmann“ verkörpert er mehr als eine Person: In seiner Fantasie ist er der Knasti, der wegen Paketbombenbaus gesessen hat, er ist Trainingspartner von Ion Tiriac (einer rumänischen Berühmtheit), er ist deutscher Botschafter in Rumänien, er ist der routinierte Unternehmensberater mit Erfahrungen in Russland. Winfried verkörpert den Archetypus des Tricksters 1) (Religion) mythologische Gestalt, die durch ein unberechenbares, betrügerisches, aber auch schelmisches Wesen charakterisiert ist u. oft als Widersacher eines gütigen Gottes auftritt (https://www.dwds.de/wb/Trickster) , des Schelms, des Hofnarren, des Gauklers, des Clowns, des Jokers, des Mephisto. Er verunsichert seine Mitmenschen, seine Umgebung, indem er sich künstliche Zähne einsetzt, sich mit Sonnenbrille und Perücke verkleidet. Er „entäußert“ sich durch Mummenschanz.

Sein Ziel ist es, seiner sich ihm entfremdeten Tochter wieder näher zu kommen, im Verlauf der Handlung zunehmend ihr den Spiegel des Narren vorzuhalten, damit sie ihr Verhalten ihrem Vater gegenüber erkennt und ändert.

In der Menschheits-, Literatur- und Theatergeschichte verkörpert der Trickster den Gegenspieler zur göttlichen Ordnung. Im Film „Toni Erdmann“ ist er der Gegenspieler zur kapitalistischen Ordnung und zur gewinnorientierten Denkweise. Mit dem Kojoten der nordamerikanischen Mythologie, ebenfalls der Spezies der Trickster zuzuordnen, erklärt Roy Wagner seine wesentliche Wirkungsabsicht:

Roy: „Ach so, du bist also das ‚etwas andere‘, das dazwischenkommt?“

Kojote: „Na klar, Kollege; ich komme immer dazwischen – zwischen mich selbst und alles andere. Ich muss mich austricksen, um andere auszutricksen. Ich bin genau das, was die Wahrnehmung wäre, wenn sie genügend über sich wüsste, um sich entsprechend darzustellen.“

Roy: „Heißt das, was wir wahrnehmen ist in Wirklichkeit, was wir über Wahrnehmung denken?“

Kojote: „Nicht schlecht; die Wahrheit ist allerdings noch unheimlicher.“

Roy: „Wenn Denken also eigentlich nur meint, dass man wahrnimmt, wie man einen Gedanken wahrnimmt, dann nehmen wir jedes Mal, wenn wir wahrnehmen, den Akt der Wahrnehmung wahr, oder, anders gesagt, wir stellen das Gesehene dem Sehenden dar. Das Licht der Erkenntnis sehen wir nie…“

Kojote: „Nur dass das Licht uns sieht, wenn es sich selbst sieht, denn was wir sehen und wie wir sehen ist ein und dasselbe.“

2) Roy Wagner, Auszug übers. v. Christel Dormagen aus dem amerikanischen Original aus Coyote Anthropology, Lincoln University of Nebraska Press, 2010

„Alles ist relativ“, so ließe es sich vereinfachen und Toni Erdmann ist ein Meister der Relativität, insbesondere in der Sichtweise Kojotes. Seine Wahrnehmungen „mischen“ die Wahrnehmung seiner Tochter „auf“.  Seine Tricks geleiten sie aus ihrem Kokon, dem eindimensionalen Beraterdasein, hinaus in (bunte) Mannigfaltigkeit und befreien sie dadurch, bzw. lassen sie sich selbst erkennen.

Die skurrilste Verkleidung Winfrieds, ein Kukeri-Kostüm, zeigt die bis zum Extremsten emotional größte Distanz zwischen Vater und Tochter auf. Ines hat zur selben Zeit ihr Team zur Geburtstagsparty eingeladen. Sie möchte nur schnell noch ihr Outfit wechseln, und kommt nicht aus ihrem knappen Minikleid heraus, als es an der Wohnungstür klingelt. Situationsbedingt empfängt sie die erste Kollegin und alle folgenden nackt. Sie erklärt ihr Verhalten als Teambildungsmaßnahme. Zwischendurch füllt auch der monströse, vermummte Kukeri den Raum. Gleichwohl führt der Gegensatz von Vermummung und Nacktheit zum Wendepunkt in der Vater-Tochter-Beziehung. Ines läuft der vermummten Gestalt im Stadtpark hinterher, fällt ihr um den Hals und ruft erleichtert: „Papa!“.
Der Bann ist gebrochen. Die emotionale Bindung erfährt einen Neuanfang.

Die Karnevalspiele der Kukeri sollen durch die speziellen magischen Tänze und schreckenerregenden Masken die bösen Geister abschrecken und für immer vertreiben, so dass die Ernte im nächsten Jahr üppig ausfällt. 3) Kukeri – Teil des lebendigen Erbes Bulgariens, 24 September, 2009, Autor: Hristina Slavova, Übersetzung aus dem Bulgarischen: Dessislava Berndt

Es ist keine Katharsis, die in der Spannung entladenden Szene des Films stattfindet, sondern ein Zustand wie man ihn am Aschermittwoch hat, wenn der Rausch vorbei ist. Das Gefühl ist Erleichterung und Erkenntnis, zutreffend veranschaulicht z.B. durch das Gemälde von Carl Spitzweg (1855/60).

Die zeitliche Nähe von Oscarverleihung und Karneval ist verblüffend. Die begehrten Trophäen werden am Rosenmontag (MEZ) vergeben, an dem in bestimmten Gegenden der Erde dem Dasein eine Maske aufgesetzt wird. Die Maskierten schlüpfen in eine Rolle, die sie befähigt, sich anders zu geben. Wenn das kein gutes Omen zur Erlangung der Auszeichnung für den besten Auslandsfilm ist?

Regie: Maren Ade, Produktion: 2015, Länge: 162 min, Verleih: Filmcoopi

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