Filmkritik: Aloys (CH/F 2016)

4. März 2016 - 2016 / bildtext

Film ist ein oftmals problematisches Medium, wenn es um das Poetische geht: Zu präsent ist die sichtbare Wirklichkeit, auf die er sich beruft. Manche sprechen dem Film sogar jegliche Fähigkeit zum Tropischen ab, weil sich das Fotografische fast immer auf eine ebensolche Wirklichkeit bezieht. Dennoch zeigt Nölle, dass das Poetische im Kino lebt. So wie Viktor Slovskij es in seinem 1927 erschienenen Text „Poesie und Prosa im Film“ formuliert, macht Nölle die Form seines Films zum Verfahren seines Films. Durch die Sichtbarkeit der Form gelingt der Sprung zum Poetischen. Und so zeigt er einen Protagonisten, der ähnlich wie das Kino selbst der großen Illusion von Realität zum Opfer fällt. Glücklicherweise ohne aus seinem Film eine prätentiös-selbstreferentielle Gedankenspielerei zu machen.

Aloys Adorn Junior (Georg Friedrich) ist vereinsamt. Er ist die Negation von „Leben“. Er ist einer, der, wie er sagt, nicht zur Party eingeladen ist. 18. Stock, der Vater Aloys Senior eben gestorben, keine Freunde, lebt Aloys Jun. nur in der Geschichte der eigenen Identität. Er spricht von sich in der dritten Person, seltsam dissoziiert und trotzdem noch immer verbunden mit seinem Vater, der trotz seines Todes Aloys Handlungen bestimmen. Er lebt seinen „second life“-Charakter in der Wirklichkeit. Als Privatermittler späht er wie eine Ein-Mann-Kinoproduktion das Leben anderer Menschen aus, ist Beuteholer eines Lebens, an dem er längst aufgehört hat teilzunehmen. Stattdessen holt er sich ein Surrogat in das eigene Wohnzimmer: „Andere Menschen zu filmen ist mein Beruf. Sich die Filme noch mal anzugucken, ist mein Hobby“, sagt er. Es ist das zwanghafte Dokumentieren, die perverse Lust am Realen, die Aloys antreibt. Sein Beruf – die Beschaffung von inkriminierendem Beweismaterial – wird zur privaten Obsession.

Aloys dokumentiert und starrt am Ende des Tages auf die toten Bilder seiner Arbeit. Aloys ist im schlechtesten Sinne Privatier, zwischen ihm und dem Leben steht immer eine Kamera, ein Türspion, eine Flasche Korn; selbst der eben gestorbene und aufgebahrte Vater wird von ihm und seinem Camcorder gefilmt. Es ist eine trügerische Wirklichkeit, die jäh durchbrochen wird, als Aloys bei einer Observation entdeckt und ihm im weiteren Verlauf Videomaterial gestohlen wird.
Es ist der Moment, in dem ihm die scheinbare Realität im wörtlichen Sinne abhanden kommt und er von einer mysteriösen Anruferin (Tilde von Overbeck) gezwungen wird, eben diese seine, private Wirklichkeit zu verlassen.

Was folgt ist ein Porträt des Zweifelns und Verzweifelns. Aloys Realität wird zerrissen und durch eine andere, transformative Wirklichkeit ersetzt. Nölle lässt seinen Protagonisten sagen: „Ein Ermittler ermittelt“ und lässt ihn mit dieser Binsenwahrheit gegen die Wand fahren – genauso wie ein Film keine Wahrheit abbildet, sondern audiovisuelle Welten entwirft, deren Wahrheiten nicht in in ihrer Referenz auf eine Wirklichkeit bestehen, sondern in seiner poetischen Kraft. So beginnt Aloys zu Träumen, vom Wald, von Freunden und Musik, von der Party, zu der er nie eingeladen war. „Privatermittler“, dieses schöne Wort stellt bereits fast den ganzen Film aus, der sich permanent zwischen der Einsamkeit seiner urbanen Protagonisten und der Wahrheit seiner selbst bewegt. Dabei sehen wir den fortlaufenden Gang der Ermittlung, die Grenzüberschreitungen vom Realen in das Phantastische. Aloys unternimmt mit der mysteriösen Anruferin „Telefonwanderungen“ im Wald, Ausbrüche aus der Borniertheit des Faktischen, der Dokumentation, des Geheimen. Und Aloys kehrt zurück in die Realität, mit Laub in den Haaren, dem Souvenir einer Transformation. Er befreit sich aus den staubig inszenierten Innenräumen und tritt hinaus in das Freie.

Nölle schafft es mit seinem Film nicht nur zwei komplexe Figuren zu zeichnen, sondern auch die poetische Funktion des Kinos wiederaufleben zu lassen – ohne in billigen Eskapismus zu verfallen. Der Film zeigt die transformative Kraft einer Poetik, die über den Realitätsstatus des Erzählten hinaus ein Stück von der Wahrheit transportiert, die ein um Realismus bemühter Film niemals zu transportieren vermag: „[D]ie Lösung des Films selbst […] ist als ein Verfahren, das das formale anstelle des bedeutungsmäßigen Moments nutzt, ein poetisches Verfahren“. So wie der eben zitierte Slovskij in „Kunst als Verfahren“ fordert, die Kunst müsse „den Stein steinern“ machen, macht Nölle in seinem Film die Einsamkeit einsam.
Die Zeichenhaftigkeit des Films mag dabei gelegentlich zu überdeutlich erscheinen, lässt sich aber letztlich als gut platzierter kritischer Kommentar zum aktuellen Kino lesen, dass sich – wie sich an der Häufung von Biopics und „wahren“ Geschichten ablesen lässt – nur allzu leicht vom Bedürfnis nach dem Realistischen vereinnahmen lässt. Mit ALOYS hat Tobias Nölle ein poetisches Stück geschaffen. Ein Lichtblick im Wahrnehmungstunnel des realistischen Kinos, das verlernt hat das Phantastische des Realen darzustellen. Dabei ist ALOYS nicht nur ein Film über die Einsamkeit zweier Menschen, sondern auch ein Film über die Kraftlosigkeit des Faktischen in Anbetracht seines poetischen Potentials.

Aloys (CH/F 2016), Regie&Buch: Tobias Nölle. Mit: Georg Friedrich, Tilde von Overbeck. 91 min.

Kilian Hauptmann
Letzte Artikel von Kilian Hauptmann (Alle anzeigen)

› tags: Aloys / Berlinale / Film / Georg Friedrich / Tilde von Overbeck / Tobias Nölle /

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.